Praxis

«Heute ist es für Institutionen eine Kunst, systemische Betreuung zu finanzieren.»

Betreuung hat neben der Pflege im Alterszentrum Wengistein eine grosse Bedeutung. Sie wird als verstärkte «Hin- und Zuwendung zu individuellen psychosozialen Bedürfnissen» verstanden.

Esther Ludwig, Psychogerontologin, ehemals Stellvertretende Zentrumsleiterin und Leitung vom Gerontologischen Dienst, gibt einen Einblick, was das Solothurner Alterszentrum etwas anders handhabt als viele andere Institutionen.

Was macht die Altersarbeit in Wengistein im Alltag der älteren Menschen speziell?

Wir versuchen zuerst einmal die Bedürfnisse nach Begleitung individuell zu erfassen und die Lebensqualität ganzheitlich zu betrachten. Gute Pflege ist eine wichtige Grundlage. Aber alle anderen Bereiche sind ihr bei uns gleichgestellt. Wir versuchen, beispielsweise die Aktivierung möglichst auf jeden Menschen angepasst zu gestalten. Ebenfalls einen hohen Stellenwert hat die Hotellerie und Gastronomie. Wenn jemand zum Beispiel beim Eintritt sagt, sie habe nicht gerne Tomaten und dann auf ihrem Salatteller tatsächlich keine Tomaten sind, wird das sehr geschätzt. Wir bekommen immer wieder erfreute Rückmeldungen, weil die Bewohnenden wahrnehmen, dass wir uns auf solche Dinge achten. Kleine Freuden können für einen älteren Menschen schon einen guten Tag ausmachen.

Der zweite besondere Punkt bei uns ist der aktive Einbezug der älteren Menschen selbst im Bewohnenden-Rat. Wir achten darauf, dass er sich aus Personen zusammensetzt, welche noch die kognitiven Abstraktionsfähigkeiten mitbringen, die Anliegen der gesamten Bewohnerschaft einzubringen. Der Rat bringt regelmässig Ideen und Verbesserungsvorschläge für die Wohnqualität und Alltagsgestaltung im Alterszentrum ein und sorgt für eine direkte Repräsentation der Anliegen der älteren Menschen gegenüber Geschäfts- und Bereichsleitenden.

Neben dem Bewohnenden-Rat gibt es in Wengistein auch einen Angehörigen-Rat. Was ist seine Funktion?

Wir verfolgen einen familienzentrierten, systemischen Ansatz der Betreuung. Konkret heisst das, die Familien der älteren Menschen haben einerseits eine anwaltschaftliche und andererseits eine informative Funktion für uns und werden ebenfalls in Entscheidungen einbezogen. Sie müssen nicht mithelfen, aber sie dürfen sich strategisch involvieren. Wir verstehen die Angehörigen der Bewohnenden nicht nur als Besuchende, sondern als Dazugehörige im ganzen System des Alterszentrums.

Die Angehörigen im Rat fungieren als eine Art unterstützende Stabstelle, die unserer Zentrumsleitung als freiwillig-engagierte Vertretung der Familien wertvolle Inputs liefert und beigezogen werden kann. Wir haben sehr gute Erfahrungen mit diesem Modell gemacht. Die Diskussion zu verschiedensten Themen dient der Qualitätssicherung und trägt zum gegenseitigen Verständnis bei. Einmal kam die Frage auf, ob Särge nicht durch den Hintereingang hinausgetragen werden könnten, damit sie den Familien nicht entgegenkommen, wenn sie ihre Verwandten besuchen. Wir haben diesen Einwand aufgenommen und dann wiederum im Bewohnenden-Rat eingebracht. Für die älteren Menschen war aber ganz klar, dass sie ganz sicher nicht durch den Keller transportiert werden wollen.

In welchem Rahmen findet der Austausch mit Angehörigen statt, die nicht im Rat sind?

Zum ersten Mal zwei Wochen nach dem Eintrittsgespräch und dann regelmässig immer wieder finden individuelle übergeordnete Gespräche statt – nur mit den Angehörigen oder mit den jeweiligen älteren Menschen zusammen. Diese Massnahmen führen zu einer Willkommens- und Dialogkultur. Sie schaffen Raum für offene Fragen, Wünsche, fördern die Reflexion und das gegenseitige Verständnis aller Beteiligten.

Die Familien setzen sich für die Interessen der Menschen ein, indem sie uns Hintergründe liefern, beispielsweise zu den Biografien, Werthaltungen, Gewohnheiten oder besonderen Vorlieben, die wir dann in der Betreuung berücksichtigen können. Wir glauben, dass diese Gespräche auch eine Entlastung für unsere Abteilungen darstellen, weil es so offizielle Wege für Rückmeldungen gibt. Zudem hat es eine präventive Wirkung, weil Kommunikationswege früh etabliert werden, sich Kritik nicht anstaut, sondern konstruktiv geäussert wird und sich die Menschen ernst genommen fühlen.

In einem Gespräch hat eine Angehörige vor kurzem beispielsweise darauf hingewiesen, dass ihre Mutter immer sehr gerne gemalt hatte. In der letzten Zeit habe sie die Motivation dazu etwas verloren und sich zurückgezogen, aber früher habe sie dies immer glücklich gemacht. Diese Bewohnende hatte sich nicht getraut, dies von sich aus anzumelden, aber nun bedeutet der älteren Frau ihr Mal-Bereich im Zimmer sehr viel. In einem anderen Fall hat eine Person darauf hingewiesen, dass sie sich wünschen würde, dass ihr Vater mehr von Gruppenangeboten profitieren könnte. Dieser konnte dann aber im Rahmen eines gemeinsamen Gesprächs festhalten, dass es zwar Veranstaltungen in Gruppen gibt, er diese aber einfach nicht besuchen möchte, weil ihm dies zu viel wird.

Was braucht es, damit solche ganzheitlichen und psychosozialen Ansätze erfolgreich sein können?

Eine Grundbedingung ist ein systemisches Verständnis. Hansruedi Moor-Minikus, unser Zentrumsleiter, hat einen sozialen Hintergrund: Er ist diplomierter Gerontologe, Sozial- und Heilpädagoge sowie systemischer Familientherapeut. Früher war er auch in der Jugendarbeit tätig. Dort ist es schon lange selbstverständlich, dass das soziale Umfeld bei der Betreuung einbezogen wird. Seine Qualifikationen haben die in der Altersarbeit üblichen Sichtweisen ergänzt. Er hatte vor 13 Jahren den Mut, diesen ganzheitlichen Ansatz anzustossen. Wir planen zudem, die Stelle mit der Verantwortung für Anmeldung und Aufnahme mit jemandem aus der Sozialarbeit oder Sozialpädagogik zu besetzen. Wenn jemand gelernt hat, mit verschiedenen Beteiligten zusammenzuarbeiten, eine hohe Mediations- und Beratungskompetenz aufweist oder mit Verhaltensauffälligkeiten gut umgehen kann, hat dies einen grossen Mehrwert für das ganze Alterszentrum und das Wohlbefinden der älteren Menschen.

Austausch braucht aber auch Ressourcen. Wir möchten den Austausch vermehrt auf allen hierarchischen Ebenen interdisziplinär gestalten können. Wir sind zudem der Überzeugung, dass mehr Spielraum bei Stellenplänen enorm sinnvoll wäre. Heute werden bei uns auch an vielen anderen Orten niederschwellige Betreuungsleistungen wie Spaziergänge von unbezahlten Freiwilligen geleistet. Und es ist für Institutionen eine Kunst, psychosoziale Stellen für systemische Betreuungsangebote so unterzubringen, dass sie finanziert werden können. Wir brauchen Finanzierungsmöglichkeiten für mehr als die Pflege.

Alterszentrum Wengistein