Interview

Gute Betreuung für ein würdiges Altern

Die Betreuung im Alter schafft Ungerechtigkeiten, erklärt Nationalrätin Flavia Wasserfallen. Sie stellte sich den Fragen des Seniorwebs anlässlich der Präsentation der neuen Studie der Paul Schiller Stiftung, die aufzeigt, wieviel gute Betreuung für alle kostet und wie sie finanziert werden kann.

01.10.2021

Wer heute in Pension geht, ist in der Regel gesünder als früher. Die Lebenserwartung ist in den letzten Jahren gestiegen. Gemäss Prognosen werden im Jahre 2050 doppelt so viele über 80-Jährige in der Schweiz leben wie heute. Mit einem längeren Leben wächst aber auch der Pflege- und Betreuungsbedarf. Der Pflegenotstand ist bereits in aller Munde (bis 2030 sollen 65'000 Pflegefachkräfte fehlen). Gemäss der von der Paul Schiller Stiftung herausgegebenen Studie «Gute Betreuung im Alter – Kosten und Finanzierung» können sich 620’000 Menschen über 65 Jahren Betreuung nicht leisten – obwohl sie heute schon darauf angewiesen wären. 20 Millionen Betreuungsstunden für ein würdiges Altern sollen fehlen.

Frau Wasserfallen, steuern wir nach dem Pflegenotstand auch auf einen Betreuungsnotstand zu?

Flavia Wasserfallen: Mit der demographischen Entwicklung steigt selbstverständlich auch der Pflege- und Betreuungsbedarf. Aber es scheint mir wichtig zu unterscheiden, was Pflege im medizinischen Sinn und was Betreuung ist. Betreuung kann sehr niederschwellig sein: Das kann eine gesellschaftliche Aktivität sein, damit die Einsamkeit verhindert werden kann, das kann Unterstützung sein beim Aufhängen der Wäsche, Hilfe bei der Vorbereitung eines Wohnungswechsels usw. Mal ist Betreuung intensiv, mal weniger und sie kann sich über einen Zeitraum von 20 Jahren erstrecken, während Pflege im medizinischen Sinn zu Hause punktuell, ausgedehnter dann meist erst im Pflegeheim und am Ende des Lebens gefragt ist.

Der Bedarf an guter Betreuung ist unbestritten. Das Problem dabei ist aber, dass sie nicht finanziert ist. Wer im Alter Betreuung beansprucht – viele haben Hemmungen, Betreuung nachzufragen – muss sie selbst finanzieren und das schafft Ungerechtigkeiten.

Wird durch die Betonung von Unterstützungsleistungen im Alltag und psychosozialer Betreuung die medizinisch orientierte Sicht der Gesundheit nicht bedeutsam erweitert hin zu einem ganzheitlichen Verständnis von Wohlergehen?

Die häufigsten psychosozialen Probleme im Alter sind Einsamkeit, Langeweile und das Gefühl von Bedeutungslosigkeit. Wenn daraus Depressionen oder Suchtprobleme wie Alkoholismus entstehen, verursachen sie medizinische Kosten. Durch gute Betreuung können sinnstiftende Tätigkeiten ermöglicht, Einsamkeit vermieden und medizinische Folgekosten im Alter verringert werden. Es ist allerdings eine gesellschaftliche Herausforderung, betreuungsbedürftige Menschen zu erreichen und sie trotz einer allfälligen Hemmschwelle zu ermutigen, dass sie diese Betreuungsleistungen annehmen.

Im Zusammenhang mit der Studie wird auch der volkswirtschaftliche Nutzen von guter Betreuung thematisiert. Demnach können durch gute Betreuung ältere Menschen länger relativ selbständig zu Hause bleiben und brauchen weniger fachmedizinischen Support. So können Kosten für medizinische Interventionen und Aufenthalte in Spitälern und Pflegeheimen eingespart werden. Wie sehen Sie das?

Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Es ist unbestritten, dass die meisten älteren Menschen wünschen, möglichst lange zu Hause zu bleiben. Das bedeutet dann eben auch, dass diese Betreuungsleistungen, die eine längere Verweildauer zu Hause ermöglichen allen zugänglich sein müssen, unabhängig von den finanziellen Möglichkeiten des einzelnen. Wenn ein Heimeintritt dadurch vermieden oder hinausgezögert werden kann, werden selbstverständlich Kosten in der Langzeitpflege eingespart.

Deswegen müssen wir also auf fachlicher und politischer Ebene Betreuung zuhause für alle ermöglichen. Dazu wurde ein politischer Vorstoss auf Bundesebene eingereicht, nämlich dass Ergänzungsleistungen auch für betreutes Wohnen und unabhängig von der Wohnform geleistet werden. Die Umsetzung dieser Forderung hat eine grosse Bedeutung und ist mir ein wichtiges Anliegen.

Was muss ein Gesetz für gute Betreuung im Alter erfüllen, damit es eine Chance hat, in absehbarer Zeit eine gute Wirkung für ein würdiges Altern für alle zu ermöglichen?

Erstens müssen Betreuungsdienstleistungen wohnformunabhängig finanziert werden. Zweitens braucht es für angebotene Betreuungsleistungen Qualitätsvorgaben. Drittens muss die Finanzierung der Betreuungsleistungen abhängig vom Einkommen und vom Vermögen sein. Der Bund kann hier zusammen mit den Kantonen tätig werden durch die Förderung einer anbieterunabhängigen Bedarfsabklärung und einer Anschubfinanzierung, wie dies die Studie der Paul Schiller Stiftung vorschlägt.

Entschärft gute Betreuung den Pflegenotstand?

Ganz bestimmt! Davon bin ich überzeugt! Wenn es uns gelingt, mit guten Instrumenten, beispielsweise auch mit aufsuchender Altersarbeit und mit passenden Angeboten im Quartier vulnerable Menschen zu erreichen und psychosoziale Belastungen zu verringern, dann haben wir ganz viel erreicht. Dann wird ein würdiges Altern für alle möglich, dann können wir Langzeitkosten sparen und Angehörige entlasten. Zudem ist es eine Tatsache, dass immer mehr ältere Menschen nicht mehr Angehörige in ihrem unmittelbaren Umfeld haben, die Betreuung leisten können. Unsere Gesellschaft ist mobiler geworden und es gibt viele kinderlose Babyboomer, die ins Alter kommen. Das sind wichtige Entwicklungen, die wir uns vor Augen halten müssen.

Das Gespräch führte Beat Steiger, Redaktor von Seniorweb.ch

Zur Person

Flavia Wasserfallen ist seit 2018 SP-Nationalrätin. Als Mitglied der nationalrätlichen «Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit» befasst sie sich in ihrer politischen Arbeit auch mit Fragen der Betreuung und Pflege.

Wasserfallen kam 1979 in Bern zur Welt und hat dort nach dem Gymnasium an der Universität Politologie und Volkswirtschaft studiert. Heute wohnt sie in ihrer Geburtsstadt mit ihrem Mann und drei Kindern. Als Mutter, als Präsidentin des Schweizerischen Fachverbands Mütter- und Väterberatung und des Dachverbands Schweizerischer Patientenstellen befasst sie sich auch ausserhalb ihres parlamentarischen Mandats mit Fragen von Pflege und Betreuung.