Praxis

«Wir brauchen einen Paradigmenwechsel»

Dies schreibt Herbert Bühl, Präsident Paul Schiller Stiftung und ehemaliger Gesundheitsdirektor Kanton Schaffhausen, im Editorial.

04.05.2020

Es war für mich unvorstellbar, was wir während der letzten Wochen erlebt haben. Ich hätte wohl jede Wette gewonnen, wenn ich vor einem halben Jahr gesagt hätte, die ganze Schweiz bleibe zu Hause.

Eindrücklich ist, wie die Menschen die Massnahmen des Bundesrates umsetzen. Eindrücklich auch, wie viele kreativ Ideen für Herausforderungen suchen und finden. Und eindrücklich, wie sichtbar und erlebbar Isolation, Einsamkeit, Langeweile wird.

Sinnlosigkeit, Einsamkeit und Langeweile sind gemäss der sogenannten Eden-Philosophie die grössten Belastungen im Alter. Nicht die medizinischen Diagnosen, nicht das Langsamer-Werden – sondern das Alleinsein. Und Corona hat ganz besonders alte Menschen allein gemacht, noch mehr, als sie es sonst schon oft sind. Während die noch jungen Alten Skype und Zoom entdecken und nun Online-Einkäufe tätigen, waren die schon fragilen alten Menschen in den Heimen total isoliert. Ich werde nicht vergessen, wie ich letzte Woche nach sechs Wochen meine 95-jährige Mutter wiedersehen durfte. In einer windigen Scheune – weil ein Besuch drinnen nicht erlaubt war – an einem wackligen Holztisch, mit zweieinhalb Metern Abstand, unter Aufsicht des Heimleiters. Sie verstand mich nicht. Verstand auch nicht, warum ich so weit wegsass. Warum wir hier frieren müssen. Aber sie freute sich.

Die Erfahrungen sind eindrücklich. Und sie lassen uns klarer sehen. Die Wissenschaft hat uns den Weg gezeigt in dieser Krise. Das ist gut so. Jetzt muss die Politik genau so sauber die Lehren ziehen – die Lehren aus dem, was wir erlebt haben. Eine solche Ausnahmesituation führt uns vor Augen, was wichtig ist:

Lokale Versorgungsnetze, die auch funktionieren, wenn man nicht mehr reisen darf.

Eine Begleitung von fragilen Menschen, die neben der Wundversorgung und Tagespflege Zeit für Gespräche, für Fragen, für Zuwendung, für einen Videoanruf bei den Enkeln hat. Marianne Pfister, Geschäftsführerin der Spitex Schweiz hat das im Spitex-Magazin wunderbar formuliert: «Beispielsweise lässt die Krise die Gesellschaft vielleicht besser begreifen, dass ältere Menschen nicht nur Pflege brauchen – sondern dass auch ihrer Betreuung Zeit eingeräumt werden muss, dass sie also auch sozialen Kontakt und Zwischenmenschlichkeit brauchen.»

Und es braucht Heime in denen die langen Stunden zwischen der Morgenpflege und dem Ins-Bett-Gehen nicht nur dann sinnerfüllt sind, wenn die Verwandten zu Besuch kommen. Nichts ersetzt den Besuch der Tochter, des Sohns oder der Enkel. Der Tagesinhalt darf aber nicht aus Warten bestehen. Der Isolation, der Einsamkeit und der Langeweile kann mit genug Zeit, den richtigen Konzepten und den entsprechenden Fachpersonen aktiv begegnet werden. Betreuung muss als eigenständiger, fachlich fundierter, klar konzipierter Bestandteil des Heimalltags gelebt werden. Das klappt nicht von jetzt auf sofort und in unerwarteten, gefährdenden Situationen wie während der letzten Wochen.

Betreuung hat einen wahnsinnig hohen Wert. Das zeigt uns diese Krise: Betreuung als Zuwendung, als individuelle Begleitung und Bindung mit Menschen, Möglichkeit zum Gespräch, zum Verbundensein mit anderen, zum Mitmachen und Teil sein. Betreuung bietet Unterstützung, um zu verstehen und verarbeiten, was passiert – in der Welt und in meiner eigenen Aufarbeitung des Lebens. Oder fachlich ausgedrückt: Betreuung fokussiert auf das psychosoziale Wohlergehen und die Teilhabe in der Gesellschaft.

Mit noch mehr Nachdruck werden wir uns deshalb dafür einsetzen: Es braucht fachlich fundierte Betreuungskonzepte in Heimen, die mit genügend Ressourcen realisiert werden können. Es braucht gut aufgestellte, lokale Betreuungsangebote, die den Menschen ein eigenständiges, sinnerfülltes, in die Gesellschaft eingebettetes Leben im Alter ermöglichen, anstatt sie der Isolation, Einsamkeit und Langeweile zu überlassen. Es braucht einen Paradigmenwechsel: weg vom heute stark körperzentrierten, akutsomatischen Therapieren und Pflegen – hin zum würdevollen, gesunden, sozial eingebetteten Altwerden. Corona hat den Blick dafür geschärft.