Live-Talk November 2022

Was hat (fehlende) Betreuung im Alter mit Gewalt zu tun?

Jedes Jahr sind zwischen 300’000 und 500’000 Personen ab 60 Jahren von einer Form von Gewalt oder Vernachlässigung betroffen. Zu diesem Schluss kam ein Bericht von Prof. Dr. Paula Krüger et al., den das Bundesamt für Sozialversicherungen 2020 publizierte. Gewalt im Alter ist aber nach wie vor ein Tabuthema – obschon das Bewusstsein zunimmt.

Im Live-Talk am 15. November 2022 kristallisierten sich drei Hauptforderungen heraus: Das Thema «Gewalt im Alter» muss enttabuisiert, die Lebensumstände alter Menschen müssen verbessert und betreuende Angehörige entlastet werden. Ein Impulsprogramm muss zwingend bei den Strukturen ansetzen, um eine Wirkung zu erzielen.

Im Gespräch mit Nationalrätin Ida Glanzmann, Prof. Dr. Paula Krüger, Dr. Susanne Nef, Ruth Mettler und Prof. Dr. Carlo Knöpfel wurde deutlich: Um wirksam Gewaltrisiken zu vermindern, braucht es neben einer Sensibilisierung der gesamten Gesellschaft auch den strukturellen Blick: Wie leben alte Menschen und wie sind sie sozial eingebunden? Warum sind sie stärker gefährdet, Opfer von Gewalt zu werden? Dabei spielen u.a. die Abhängigkeit von anderen Personen, soziale Isolation, Vulnerabilität sowie die gesellschaftliche Einstellung gegenüber dem Alter und älteren Personen eine grosse Rolle.

Entsprechend wichtig ist eine Stärkung der Angebote für eine gute Betreuung – v.a. auch der aufsuchenden Betreuung. Eine gute Betreuung ermöglicht es alten Menschen, länger selbständig zu bleiben, ihre verschiedenen sozialen Kontakte zu erhalten, verschiedene Handlungsoptionen zu haben und damit viel weniger in eine Abhängigkeit zu geraten.

Betreuungsangebote können sowohl betreuende Angehörige als auch professionelles Betreuungs- und Pflegepersonal entlasten und unterstützen. Gerade wenn Betreuung von Personen mit sozialen Berufen erbracht wird, bringen diese ein Fachwissen und Instrumente mit, die in der Prävention, im Coaching oder in der Bewältigung von meist komplexen Gewaltsituationen ganz zentral sind: Eine Gesprächsführung und Beratung auf Augenhöhe, ein gemeinsames Herausfinden, wie die Situation für alle Beteiligten verbessert werden kann, ein Aktivieren und Einbeziehen von weiteren Hilfsangeboten.

Ein Impulsprogramm des Bundes, wie es aktuell geprüft wird, muss deshalb unbedingt bei den Strukturen ansetzen: Wie leben alte Menschen, wie können wir ihre Selbstsorge und Selbständigkeit erhalten und ihnen helfen ihren Alltag zu bewältigen, um so ihr Gewaltrisiko zu verhindern? Wie können wir ihren Angehörigen soziale und gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen, ihnen den Zugang zu der Unterstützung und Entlastung zu sichern, die sie brauchen – psychosoziale Betreuung, Haushaltshilfe, Pflege? Und: Wie sichern wir den Zugang für alle Menschen? Gerade Menschen in finanziell schwierigen Umständen weisen ein noch höheres Risiko auf, Opfer von Gewalt zu werden.

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