Live-Talk II September 2020

Politik – welche Rahmenbedingungen können wir anpassen, damit gute Betreuung möglich wird?

Darüber diskutierten Gemeinderätin Franziska Teuscher aus Bern, Regierungsrat Christoph Amstad aus Obwalden und Nationalrätin Flavia Wasserfallen zusammen mit den ExpertInnen Dr. Heidi Stutz (Büro Bass) und Prof. Dr. Carlo Knöpfel (FHNW) mit Moderatorin Sonja Hasler.

«Die AHV deckt sehr viel weniger als die IV.»
Heidi Stutz, Büro Bass

«Pflege im engeren Sinne stellt nicht das Hauptproblem dar», bringt Heidi Stutz ihre Erkenntnisse rund um die Herausforderungen der guten Betreuung im Alter auf den Punkt. Die Forscherin hat die finanzielle Belastung von Familien untersucht, die Betreuungsleistungen für ihre Angehörigen wahrnehmen. Sie stellt fest, dass die Übernahme der medizinischen Kosten gesichert sind, aber bei weitem nicht alle Aufwände gedeckt sind. «Viel stärker ins Gewicht fällt oftmals, dass die Kosten für Betreuung, notwendige Präsenz und Überwachung von keiner Sozialversicherung gedeckt sind.» Mit Blick auf die nur im IV-Bereich existierenden Assistenzbeiträge und die doppelt so hohen Hilflosenentschädigungen für Menschen, die in den eigenen vier Wänden betreut werden, hält Heidi Stutz fest: «Die AHV deckt sehr viel weniger als die IV.»

«Es fehlt aktuell die Gesamtsicht.»
Nationalrätin Flavia Wasserfallen, Nationalrätin SP/BE

Nationalrätin Flavia Wasserfallen betont, dass der Bund sich mit einzelnen Programmen und Gesetzesanpassungen dem Thema Betreuung im Alter annähert – insbesondere mit dem Gesetz für betreuende Angehörige und der überwiesenen Motion zu Ergänzungsleistungen für betreutes Wohnen. Der Bund wird der Tragweite des Themas aber noch nicht gerecht: «Es fehlt aktuell die Gesamtsicht. Der Betreuungsbedarf besteht über einen langen Zeitraum, betrifft viele und es werden immer mehr. Eine gute, zugängliche Betreuungsqualität muss unser Ziel sein – auch um Kosten in der Pflege und durch psychosoziale Leiden zu sparen.»

Mit dem Pilotprojekt der Betreuungsgutsprachen verfolgt die Stadt Bern einen innovativen Ansatz, der Menschen mit tiefen Einkommen in der Finanzierung ihrer Betreuung unterstützt. «Wir können auf Gemeindeebene nicht immer auf die umfassenden Lösungen von Bund und Kantonen warten. Die finanziellen Probleme sind für die Menschen in der Stadt Bern real, deshalb suchen wir nach raschen Lösungen. Unser Projekt ist ein konkreter Schritt zur Unterstützung einer spezifischen Zielgruppe. Wir sind uns bewusst, dass wir nur einen kleinen Teil beisteuern, aber für die Betroffenen ist es ein wichtiger Beitrag», erklärt Franziska Teuscher.

Auch die Sozialdirektorenkonferenz beschäftigt sich mit der Frage des begleiteten Wohnens – sowohl für ältere Menschen als auch Menschen mit Behinderung. Ihr fehlt aber eine Vorgabe vom Bund, wie Betreuung definiert wird und in welchem Rahmen die Kantone agieren sollen: «Betreuung ist politisch noch nicht abgesteckt: was heisst das eigentlich? Diese Frage muss auf Bundesebene gelöst werden.» Christoph Amstad doppelt nach: «Der Bund setzt den Rahmen und die Kantone und Gemeinden agieren gemäss ihrem lokalen Bedarf.»

«Die Finanzierung muss unbedingt berücksichtig werden, damit es nicht bei reinen Lippenbekenntnissen bleibt.»
Franziska Teuscher, Nationalrätin GPS/BE

Neben einer nationalen Strategie kamen mögliche Finanzierungsmechanismen zur Sprache. «Die Finanzierung muss unbedingt mit berücksichtig werden, damit es nicht bei reinen Lippenbekenntnissen bleibt», betont Franziska Teuscher. Auf Bundesebene schätzt Flavia Wasserfallen die Situation der politischen Machbarkeit ähnlich ein, nämlich dass «ein Flickenteppich bestehen bleibt, aber so Schritt für Schritt die Situation verbessert werden kann.» Carlo Knöpfel greift in diesem Zusammenhang die Vorlage auf, die heute konkret zur Umsetzung ansteht: «Die Erweiterung der Ergänzungsleistungen für betreutes Wohnen liegt auf dem Tisch. Hier muss ein erster Schritt in Richtung Finanzierung einer guten Betreuung – unabhängig der Wohnform – gelingen».

Der Live-Talk in voller Länge