Gespräche in Städten und in Gemeinden vertiefen die Diskussion über gute Betreuung
Nur mit dem Einsatz aller lassen sich die Herausforderungen der demografischen Alterung in unserer Gesellschaft gut bewältigen. Im Bewusstsein dieser gemeinsamen Verantwortung will die Paul Schiller Stiftung die Betreuung im Alter zum Thema machen und den Dialog vor Ort stärken.
Stadtgespräche
Gespräche in Städten und in Gemeinden vertiefen die Diskussion über gute Betreuung
Zahlreiche Schweizer Städte und Gemeinden verfügen über wertvolles Wissen und Erfahrungen im Bereich gute Betreuung im Alter. Wir wollen die im Wegweiser für gute Betreuung im Alter und in der Kosten- und Finanzierungsstudie publizierten Erkenntnisse mit Vertreterinnen und Vertretern aus der Politik, Verwaltung und Fachwelt vor Ort prüfen und weiter vertiefen. Die Paul Schiller Stiftung und der Schweizerische Städteverband laden kommunale Verantwortliche für Altersfragen ein, gemeinsam mit uns einen Anlass zum Thema «Gute Betreuung im Alter» durchzuführen.
Den Anfang für diese Reihe von sogenannten «Stadtgesprächen» hat die Gemeinde Thalwil im März 2022 gemacht: Lokale Fachpersonen haben über bestehende Lücken in der Betreuung und mögliche Lösungen diskutiert. Dabei resultierten wichtige Impulse, um das Thema Betreuung im Alter weiterzuverfolgen.
Kontakt
Gastgeberin eines solchen Stadtgesprächs ist die Gemeinde, die Paul Schiller Stiftung unterstützt diese bei der Umsetzung. Wenn Ihre Gemeinde Interesse hat, einen solchen Anlass durchzuführen, können Sie sich gerne an Miriam Wetter, Stabsstelle Gute Betreuung im Alter der Paul Schiller Stiftung, wenden: miriam.wetter@gutaltern.ch oder 062 511 20 30.
Mit der neuen Altersstrategie setzt sich die Stadt St.Gallen zum Ziel, dass ältere Menschen künftig ein Betreuungsangebot vorfinden sollen, das ihren Bedürfnissen entspricht und das bezahlbar ist. Welche Massnahmen es dafür braucht, darüber diskutierten Fachleute beim Stadtgespräch, das im Mai von der Paul Schiller Stiftung und dem Städteverband organisiert wurde.
Liebevoll kümmerte sich die Frau zusammen mit ihrem Mann um ihren dementen Vater. Als die Familie nach Jahren wieder einmal in die Ferien verreisen wollte, suchte sie nach einer geeigneten Institution, wo der Grossvater für zwei Wochen in guten Händen wäre. Heim für Heim klapperte die Familie ab. Einige von ihnen gaben auf der Website an, dass ein temporärer Aufenthalt möglich sei. Doch auf Anfrage stellte sich heraus, dass es das Angebot nicht mehr oder nur bei einem freien Zimmer gibt. Die Familie fand schliesslich kein Heim, das genau während den Schulferien Platz gehabt hätte.
Das Beispiel erzählte einer der Teilnehmer des St.Galler Stadtgesprächs. Es zeigt exemplarisch: Bei der Betreuung von älteren Menschen gibt es Lücken. Doch wie gross sind diese? Und welche Lösungsmöglichkeiten gibt es? Beim Stadtgespräch suchten 50 Fachpersonen Antworten auf diese Fragen und somit nach dem «St.Galler Weg» bei der Betreuung im Alter.
Heute leisten Freiwillige einen grossen Teil der Betreuungsarbeit. Die meisten von ihnen sind Angehörige. Doch: Immer mehr Menschen werden immer älter, während immer weniger Angehörige Betreuungsarbeit leisten können, etwa weil die geografische Distanz zu gross ist und sie beruflich eingespannt sind. Prof. Dr. Carlo Knöpfel machte in seinem Vortrag deutlich: «Der gesellschaftliche Wandel führt zu einem wachsenden, aber zunehmend ungedeckten Bedarf an Betreuung im Alter.»
Die Freiwilligenarbeit stand denn auch immer wieder im Fokus des Gesprächs. Oft würde dies falsch verstanden: «Die landläufige Meinung ist, diese sei ja gratis. Dabei braucht es Investitionen, damit von der Freiwilligenarbeit alle profitieren: die Freiwilligen und die Betroffenen», so eine Stimme. Die Freiwilligenarbeit sei ein wichtiger Teil, aber sie könne nicht das Fundament sein der Betreuung im Alter.
Einigkeit bestand, dass St.Gallen bei der Betreuung älterer Menschen über ein breites Angebot verfügt. Allerdings wissen nicht alle Betroffene, welche Unterstützung ihnen zur Verfügung steht und wo sie diese erhalten. Diskutiert wurden auch Lösungsvorschläge wie Informationsanlässe in den Quartieren, Case Management oder eine verstärkte Netzwerkarbeit. Auf der Wunschliste zuoberst steht aber auch in St.Gallen eine ganzheitliche Finanzierungslösung durch Bund, Kantone und Gemeinden.
Ein Teilnehmer wies auch darauf hin, dass die Sozialversicherungsanstalt in St.Gallen mehr Leistungen übernehme als in anderen Kantonen. Eine ideale Voraussetzung für den «St.Galler Weg» bei der Betreuung im Alter.
Der Anlass hat bei vielen Teilnehmenden neue Erkenntnisse gebracht und das gemeinsame Verständnis für Betreuung geschärft. Auch die zuständige Stadträtin zieht ein positives Fazit: Das Stadtgespräch habe gezeigt, dass St.Gallen über gute Angebote verfüge, so Dr. Sonja Lüthi im Interview: «Es gilt nun diese noch besser bekannt zu machen und bei Bedarf auszubauen. Ich bin sehr dankbar dafür, dass wir in unserer Stadt auf viele motivierte Akteure zählen dürfen, die wie wir den Wunsch haben, gemeinsam eine gute Betreuung im Alter sicherzustellen.»
Eine 87-jährige pflegebedürftige Frau aus Thalwil muss für eine Operation ins Spital. Nach dem medizinischen Eingriff will sie wieder zurück in die eigenen vier Wände, was mit Unterstützung ihrer Angehörigen auch gelingt. Die Spitex leistet ausgezeichnete ambulante Unterstützung, doch der Abrechnungsmodus schreibt genau vor, wieviele Minuten für welche Pflegeleistung aufgewendet werden dürfen – da bleibt kaum noch Zeit für einen unbekümmerten Schwatz, geschweige für eine umfassende Betreuung. Die betagte Frau verfügt täglich über viel Zeit, viel «tote Zeit», mit wenig Ablenkung: morgens drei und nachmittags bis zu vier Stunden. Dadurch zeigen sich immer wieder depressive Gemütslagen, die sich verstärken. Angehörige und Nachbarinnen können diesen mit ihren regelmässigen Besuchen nur teilweise entgegenwirken. Was fehlt, ist eine entlastende gute Betreuung, die sich so adäquat um das psychosoziale Wohlbefinden der 87-Jährigen kümmert, wie es die Spitex für die körperliche Gesundheit tut.
Eine Checkliste für Thalwil
Dieses Beispiel lässt erahnen, dass der Bedarf an Betreuung im Alter auch in Thalwil erheblich sein dürfte. Rund jeder Zehnte der 3500 Personen über 65 Jahren ist früher oder später wohl auf Betreuung angewiesen, schätzt der für Altersfragen zuständige Gemeinderat Peter Klöti in seinen Begrüssungsworten zur Fachveranstaltung in Thalwil. Die Gemeinde versuche mit «Betreuungsgutscheinen» unterstützende Angehörige zu entlasten. Allerdings werden die finanziellen Beteiligungen für Dienstleistungen der Pro Senectute, des Entlastungsdienstes etc. weniger nachgefragt als erwartet: Trotz Bedarf braucht es offenbar viel Überwindung, einen solchen Gutschein in Anspruch zu nehmen.
In seinem Referat erklärte Carlo Knöpfel, Professor für Sozialpolitik und Sozialarbeit an der Fachhochschule Nordwestschweiz, was gute Betreuung im Alter ausmacht, weshalb diese ein wichtiges Thema ist und wie sie für alle finanziert werden kann. Dabei kam er auf den demografischen Wandel zu sprechen und führte das Finanzierungsmodell «Betreuungsgeld für Betreuungszeit» der Paul Schiller Stiftung aus: Dieses sieht Stundenkontingente für Menschen mit Betreuungsbedarf vor, wodurch sich ihre finanzielle Belastung reduziert. Und er zeigte anhand einer Checkliste auf, was Thalwil tun kann: Die Bedürfnisse älterer Menschen und ihrer Angehörigen klären, Eigenleistungen der Betroffenen festlegen, Restfinanzierung sicherstellen, die aufsuchende Arbeit fördern etc. Knöpfel ist überzeugt: «Die Kosten der Betreuung im Alter können von einer Gemeinde getragen werden, zumal Einsparungen im stationären Bereich zu erwarten sind.»
Ein neues Legislaturziel?
Damit war der Boden gelegt für angeregte Diskussionen in den anschliessenden Workshops. Es galt, die Lücken bei der Betreuung in der eigenen Gemeinde auszumachen und mögliche Lösungen aufzuzeigen. Dabei wurde deutlich, wieviel formelle und informelle Betreuungsarbeit in Thalwil heute schon geleistet wird – aber auch, wo noch Handlungsbedarf besteht: Betreuung soll für alle zugänglich sein, es gilt, Vertrauen aufzubauen und auf die Betroffenen sowie auf die Angehörigen zuzugehen.
Peter Klöti zieht denn auch ein positives Fazit: «Die Veranstaltung hat dazu beigetragen, alle Teilnehmenden in Richtung eines umfassenden Verständnisses für den Begriff ‘Gute Betreuung im Alter’ zu sensibilisieren.» Auch er erhielt wichtige Impulse für seine politische Arbeit: «Nach meiner Wiederwahl werde ich versuchen, ein neues Legislaturziel für gute Betreuung im Alter zu definieren.» Damit in Thalwil die Menschen in Würde altern können – und weniger «tote Zeit» haben.