Studie
«Wir müssen Herausforderungen der Praxis und sozialpädagogische Bedürfnisse älterer Menschen sichtbar machen»
Die Studie «Gute Betreuung im Alter – Sozialpädagogik konkret» der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit zeigt mit praxisnahen Ansätzen, wie die professionelle Betreuung in Institutionen gestärkt werden kann – und welche Rolle dabei sozialpädagogische Fachpersonal zukünftig spielen sollte.
Mit Videoaufnahmen wurde der Alltag älterer Menschen im Rahmen der HSLU-Studie in vier verschiedenen Heimen analysiert. Wir haben mit der Co-Autorin, Karin Stadelmann vom Institut für Sozialpädagogik und Bildung (ISB) der Hochschule Luzern, gesprochen.
In den letzten Jahren wurden einige Forschungsarbeiten rund ums Thema Betreuung im Alter realisiert. Wo knüpfen Sie mit Ihrer Studie an diese an und wo setzen Sie neue Schwerpunkte?
Das Potenzial Sozialer Berufe für die Betreuung im Alter ist angesichts der vielfältigen sozialen Lebensbereiche besonders relevant. Zudem wächst – im Kontext der Zunahme der älteren Bevölkerung in unserer Gesellschaft sowie dem Fachkräftemangel – die Bedeutung der interprofessionellen Zusammenarbeit zwischen Betreuung, Pflege und Freiwilligen im Altersbereich. Ich bin froh erkennt dies heute nicht nur die Forschung, sondern auch die Praxis. Nun gilt es, die bestehenden Grundlagen für praktische Umsetzungen in den Heimen greifbar zu machen.
Wie sind Sie dazu in Ihrer Untersuchung methodisch vorgegangen?
Co-Autorin Rita Kessler und ich haben einen handlungstheoretischen Zugang gewählt. Uns ging es von Beginn an um das Alltagsgeschehen und das Wirken der Fachpersonen. Wir haben in Absprache mit den Heimen Kameras in den Gemeinschaftsräumen installiert und die Fachpersonen vor Ort wurden mit Bodycams ausgestattet. Durch Videoaufnahmen der authentisch gelebten Praxis konnten Bedürfnisse, Bedarf und Herausforderungen des aktuellen Betreuungsalltags in vier verschiedenen Alters- und Pflegezentren sichtbar gemacht werden.
Anschliessend haben wir das umfangreiche Videomaterial anhand der vier folgenden sozialpädagogischen Arbeitsprinzipien analysiert.
- Durch Betreuung die individuelle Lebensqualität fördern
- Partizipation/Teilhabe: Ältere Menschen an Entscheidungsprozessen im Alltag involvieren
- Förderung und der Erhalt der Selbstbestimmung/Autonomie in ihrem täglichen Leben
- Sinnvolle Betreuung ist ganzheitlich – orientiert an der individuellen Lebenswelt, dem Lebensstil sowie der Bewältigung spezifischer Situationen von älteren Menschen
Wir haben angeschaut, was explizit von Seiten der Fachpersonen für die Alltagsgestaltung gemacht wird, wie die Umsetzung erfolgt, was damit gemeint ist und woran sich die Fachpersonen orientieren. Zum Beispiel gibt es einen Schlüsselmoment in den Aufnahmen: eine intensive Diskussion, in der einer älteren Frau erklärt wird, dass sie nun nicht mehr in den Speisesaal zum Essen gehen kann, weil sie regelmässig stürzt, obwohl sie das unbedingt weiterhin möchte. Schutz und Sicherheit werden in dieser Situation stärker gewichtet als die Bedürfnisse nach Selbstbestimmung und Partizipation. Die Pflegefachperson nimmt sich zwar Zeit, erklärt den Entscheid, aber ihr Tonfall ist direktiv und die Begründung für uns nur teilweise nachvollziehbar. Vielleicht ist sie nicht darauf sensibilisiert, hat nicht ausreichend Ressourcen oder die Strukturen sind zu starr: Sie scheint nicht zu bemerken, dass sich die ältere Frau in diesem Moment in sich zurückzieht und sichtbar an Aktivität und Elan abbaut, weil ihr keine Alternativen oder Handlungsspielräume angeboten werden.
Welche Schlussfolgerungen haben Sie aus den Beobachtungen im Rahmen der Studie gezogen?
Unserer Einschätzung nach bemühen sich die Pflegenden in den Institutionen, die älteren Menschen auf Persönliches anzusprechen und Bezüge zu deren Lebenswelt zu schaffen. Auch die bestehenden regelmässigen Angebote sind wichtig. Aber was passiert während den restlichen Stunden? Unsere Beobachtung zeigten, wie viele Momente es gibt, in denen für die Bewohnenden triste «Leerzeiten» im Lebensalltags entstehen. Ihre Lebenswelt und ihre Vorlieben – auch aus ihren früheren Leben – werden nur wenig beachtet. Aktivierung findet manchmal nur innerhalb des festgelegten Rahmenprogramms statt. Es braucht aber deutlich mehr, damit sich ältere Menschen wohlfühlen. Mehr Präsenz, Gespräche und Zeit. Interessen, Präferenzen oder Erlebnisse sollten durch einem personenzentrierten und bedürfnisorientierten Ansatz öfter geteilt werden können. Genau dort kommen für uns die Sozialen Berufe ins Spiel.
Welches Potenzial sehen Sie für die Bewohnenden, wenn vermehrt Soziale Berufe in die Altersinstitutionen integriert würden?
Wir haben vor allem ein Augenmerk auf die Sozialpädagogik gelegt. Sie leistet als agogischer Beruf psychosoziale, vernetzende und beratende Unterstützung für einen bedürfnisgerechten Alltag. Das heisst, sie setzt auf die Förderung der Eigenverantwortung und Eigeninitiative. Sie kann dort ansetzen, wo ältere Menschen nicht mehr selbstständig in der Lage sind, ihre eigenen Bedürfnisse zu decken oder diese selbst zu äussern. Bei Kindern und Jugendlichen ist diese Form von Begleitung und Betreuung für unsere Gesellschaft heute bereits selbstverständlich. Unsere Aufnahmen im Rahmen der Studie haben bestätigt, dass man im Alter oft wieder von einer bedürfnisgerechten, professionelle Unterstützung bei der Alltagsgestaltung abhängig wird.
Das bedeutet nicht, dass wir jetzt einfach in jedes Heim fünf Fachpersonen Sozialer Berufe schicken sollten, die dann alles übernehmen und alle Probleme lösen müssen. Fachpersonen mit psychosozialer oder agogischer Expertise bringen eine ergänzende Perspektive und eine ganzheitlichere Betrachtung mit. In Kaderpositionen können sie strategische Entscheide fällen und ihre kommunikativen Fähigkeiten für die Vernetzung verschiedener Rollen sowie zur Stärkung des Pflegeteams einsetzen. Wo müssen Kompetenzen gefördert, ausgebaut und stärker gewichtet werden? Wo braucht es dafür zusätzliche Aufgabenprofile und Stellen? Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen sind darauf geschult, den Austausch zwischen Involvierten– auch aus der Pflege oder mit Freiwilligen – zu fördern, zu sensibilisieren und zu koordinieren. Das ist entscheidend, um vom «Gärtlidenken» wegzukommen. Hier wollen wir auch weiter ansetzen und sind nun daran, ein Berufsprofil «Sozialpädagogik in der stationären Altersarbeit» zu entwickeln.
Mir ist wichtig zu betonen: Indem wir in die Wertigkeit und Integration der sozialen Berufsbilder in der Altersarbeit investieren, können wir die Qualität einer professionellen psychosozialen Betreuung sichern.
Wichtigste Erkenntnisse aus der Studie
Die Ergebnisse der empirischen Studie zeigen exemplarisch auf, welche Aspekte aktuell zu einer guten psychosozialen Betreuung beitragen. Sie untermauern die Notwendigkeit einer stärkeren Einbindung von Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen in die Altersarbeit.
Der zentrale Stellenwert sozialer Bedürfnisse, lebensweltorientierter Unterstützung sowie der Förderung von Selbstbestimmung für die Lebensqualität älterer Menschen wird bestätigt. Die stärkere Anerkennung ihrer Identität und Persönlichkeit sowie Möglichkeiten zur Ausübung eigener Interessen haben eine starke Wirkung: Sie fördern das Wohlbefinden von älteren Menschen in den Alterszentren.
Dazu sind nicht immer regelmässig geplante Aktivitäts-Angebote erforderlich. Das Wirkungspotenzial spontaner Begegnungen und Interaktionen wird oft unterschätzt.
Für gute Betreuung in Alterszentren entscheidend sind ein aktives, empathisches, aber nicht übermässig fürsorgliches oder paternalistisches Sorgeverständnis. Ebenso wie die effektive Dialogfähigkeit der Bewohnerinnen und Bewohner und Fachkräfte, eine wertschätzende Kommunikationskultur.
Ziel muss es sein, älteren Menschen selbstbestimmten Handlungsspielraum zu lassen oder zu schaffen und ihre individuellen Ressourcen, (früheren) Interessen sowie Biografien in der Alltagsgestaltung anzuerkennen und zu berücksichtigen. Sowohl bei Einzelaktivitäten als auch in Gruppen.
Was empfehlen Sie Institutionen, was sie mit den aktuell gegebenen Rahmenbedingungen bereits umsetzen können?
Ein besonders vorbildliches Praxisbeispiel von Selbstwirksamkeit war der sogenannte Morgenkreis, den wir in einem der Heime gefilmt haben: Die älteren Menschen kommen in einen Raum, sie reden untereinander, bevor es losgeht. Dann setzt eine Fachperson mit einem kurzen Input ein Thema. Erinnerungen des eigenen Lebensverlaufs der Teilnehmenden werden wachgerufen und so wird freies Erzählen und Vernetzen untereinander ermöglicht: Die älteren Menschen können sich so als Expertinnen und Experten ihres eigenen Lebens gegenüber anderen zeigen. Besonders schön war es zu hören, wie man, ausgehend vom ursprünglich benannten Thema, eine Zeitreise in ihre Vergangenheiten miterleben konnte. Ein älterer Herr berichtet plötzlich von seinen «Strolchenfahrten über den Bernina-Pass» und davon, dass man damals eigentlich noch fast keine Schutzausrüstung hatte, im Gegensatz zu heute. Das Setting des Morgenkreises ermöglicht es den älteren Menschen, sich selbstbestimmt und biografisch gehaltvoll zu erleben. Der Gesprächsverlauf ist nicht vorgegeben, die Fachperson moderiert nur und integriert zurückhaltendere Teilnehmende.
Das könnte so ab sofort überall eingeführt werden. Dieses Setting funktioniert für Menschen in verschiedensten Fragilitätsphasen, ohne grossen Aufwand und ist vielleicht mehr wert als viele ausgefeilte Programme. Wenn wir so direkt in der Lebenswelt ansetzen, dann haben die älteren Menschen auch nicht mehr das Gefühl, sie geben ihr ganzes Leben ab, wenn sie in ein betreutes Wohnen kommen.

Prof. Dr. Karin Andrea Stadelmann ist FH-Professorin und Leiterin des Competence Centers am Institut für Sozialpädagogik und Sozialpolitik der Hochschule Luzern Soziale Arbeit. Ihre Lehr- und Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Begleitung und Betreuung im Alter, Palliative Care – über die gesamte Lebensspanne von der Geburt bis zum Lebensende – sowie strategische Alterspolitik und Gesundheitsförderung.