Interview

«Wie erreichen wir vulnerable alte Menschen?»

Antworten im Interview mit Simon Stocker, ehemaliger Stadtrat und Sozial- und Sicherheitsreferent der Stadt Schaffhausen.

05.05.2020

Als Stadtrat sind Sie zuständig für das Sozial- und Sicherheitsreferat – inwiefern beschäftigt Sie als Stadtrat die Corona-Pandemie?

Es sind schwierige Zeiten, allem voran auch für die ältere Bevölkerung. Was ich aber erlebe, ist die Solidarität und die Bereitschaft vieler Menschen, anderen zu helfen. Viele Helferinnen und Helfer melden sich bei der Stadt, anderen Institutionen oder organisieren sich gleich selber. Es zeigt sich jedoch das Problem, dass viele ältere Menschen keine Hilfe in Anspruch nehmen oder keine Kenntnis über die Hilfsangebote haben. Dies trifft besonders auf vulnerable, ältere Menschen zu.

Wie geht die Stadt mit dieser Herausforderung um?

Erst einmal waren wir mit der Frage konfrontiert, ob wir alle vulnerablen, älteren Menschen erreichen.

Simon Stocker

Der 39-jährige Simon Stocker, Mitglied der Alternativen Liste (AL), ist seit 2013 Stadtrat und Sozial- und Sicherheitsreferent der Stadt Schaffhausen.

Er hat einen Master in Sozialer Arbeit der ZHAW. Von 2016 bis 2019 war er Vorsitzender des Schweizer Netzwerks altersfreundlicher Städte.

Und können Sie dies?

Hier mussten wir uns eingestehen: Diese Fragen können wir nicht restlos beantworten. Zwar wissen wir, dass wir über die Alterszentren, die Spitex, Pro Senectute und das SRK einen Teil der älteren Bevölkerung erreichen. Aber was ist mit den anderen? Wo leben diese und wie erreichen wir sie?

Ich habe mir Zeit genommen, einen Blick in die Fachliteratur zu werfen, um Antworten auf meine Frage zu erhalten. Dabei bin ich auf ein Modell der Fachhochschule Köln, das die Erreichbarkeit vulnerablen, älterer Menschen thematisiert, gestossen. Das Modell thematisiert aber auch die Unterschiede der älteren Menschen, also die Individualität jeder und jedes Einzelnen. Dabei ist die Vulnerabilität abhängig von physischer und psychischer Gesundheit sowie sozioökonomischen Faktoren wie Bildung, Einkommen und Familienstand. Hierzu gibt es auch eine interessante Studie von Pro Senectute Schweiz, welche ähnliche Faktoren aufzeigt.

Klingt etwas abstrakt als Grundlage für die Krisenkommunikation.

Auf den ersten Blick, ja. Aber es geht darum, ob und wie wir mit unserer Kommunikation alle Menschen und vor allem vulnerable ältere Menschen erreichen. Mir ist wichtig, dass Hilfe anbieten immer auch bedeutet, den Menschen Freiheiten zu lassen. Die Freiheit selbst entscheiden zu können, ob und in welcher Form sie Unterstützung wünschen.

Ein mündiger älterer Mensch muss jedoch informiert sein. Die Kölner Studie liefert hier einen interessanten Ansatz, wie ältere Menschen informiert sind oder eben nicht: Sie unterscheidet verschiedene Zielgruppen: Zum einen informierte ältere Menschen, mit Kontakt- und Kommunikationsmöglichkeiten im öffentlichen Raum und solche ohne. Und auf der anderen Seite die für uns interessante Zielgruppe derjenigen Menschen, die nicht informiert sind und entweder noch Kontakt- und Kommunikationsmöglichkeiten im öffentlichen Raum haben, oder eben nicht.

Wobei die letztgenannte Gruppe – nicht informierte Menschen, die keinen Kontakt mehr im öffentlichen Raum haben – am schwierigsten zu erreichen ist, oder?

Genau, diese Personen sind sehr isoliert und eine Kontaktaufnahme und Information sehr herausfordernd. Im Kölner Beispiel waren das 10% der untersuchten Personen.

Wie sieht die Situation bei Ihnen in Schaffhausen aus?

Wir haben nun alle Person über 80 Jahren in den Fokus genommen. Das sind rund 2500 Personen. Ein Drittel davon leben in einem Alterszentrum oder nutzen die Spitex. Diese Personen werden also unterstützt und stehen in regelmässigem Kontakt mit unseren Organisationen. Sie sind abgedeckt. Bei den verbleibenden zwei Dritteln versuchten wir, mit statistischen Angaben mehr über die vulnerable Zielgruppe zu erfahren.

Sozioökonomisch Faktoren erhielten wir über den Familienstand und die Wohnadresse, die ein Hinweis auf die Einkommenssituation gibt. Beide Angaben sind im System der Einwohnerdienste erfasst. In einer Stadtkarte haben wir nun eingetragen, wo Einzelpersonen und wo ältere Menschen in eher unterdurchschnittlich teuren Mietwohnungen leben. So haben wir für jedes Quartier eine Karte erhalten, die besondere Massierungen aufzeigt.

In einigen Strassenzügen wohnen viele ältere Menschen mit besonders vielen vulnerablen Faktoren. Die statistischen Angaben decken sich dabei ja sehr oft mit dem eigenen Wissen und Erfahrungen zu den einzelnen Stadtgebieten und sind keine riesen Überraschung. Aber sie sind eine hervorragende Grundlage für eine gemeinsame Diskussion. Die Studie der FH Köln bietet zudem auch hier interessante Denkanstösse zu möglichen Massnahmen.

«Am wichtigsten scheint mir aber, dass sich die Akteure der kommunalen Altersarbeit ihr Wissen zur Zielgruppe gegenseitig besser zur Verfügung stellen, damit die Versorgung gemeinsam koordiniert werden kann.»
Simon Stocker, Stadtrat und Sozial- und Sicherheitsreferent der Stadt Schaffhausen

Was wurde in Köln umgesetzt?

Die Kölner Studie hat in gewissen Quartieren gezielte Massnahmen ausgetestet mit dem Ziel, die Leute besser über Angebote zu informieren und sie ins Quartierleben einzubeziehen. Diese Massnahmen wurden von den verschiedenen Partnern gemeinsam besprochen und beschlossen. Gestartet wurde mit einer breiten und allgemeinen Kampagne. Diese wurde durch gezieltere Informationsmassnahmen ergänzt.

Für ältere Personen, die sich noch gut und oft im öffentlichen Raum aufhalten und eine Kommunikation dort noch stattfindet, wurden drei mögliche Gruppen geschult und eingesetzt, um Informationen direkt abzugeben: Erstens die Alltagskontakte, wie beispielsweise Mitarbeitende von Apotheken, zweitens Bekannte aus Nachbarschaft oder Familie und drittens ältere Schlüsselpersonen, die bereit sind, die Rolle als Mittler wahrzunehmen. Für ältere Personen, die sich nicht mehr gross im öffentlichen Raum aufhalten, wurden zwei mögliche Gruppen geschult und eingesetzt: Personen mit Zugang zu Wohnung – wie beispielsweise der Hauswarte – oder Fachpersonen des Gemeinwesens oder der Gesundheitsförderung.

Was kann hier die Politik leisten? Welche Rahmenbedingungen muss sie bereitstellen?

Grundsätzlich lohnt sich die Zusammenarbeit mit der Wissenschaft oder Organisationen, die andere Denkansätze und Innovation ins Thema bringen. Die Stadt wiederum muss entsprechende Gelder und Fachpersonal zur Verfügung stellen. Am wichtigsten scheint mir aber, dass sich die Akteure der kommunalen Altersarbeit ihr Wissen zur Zielgruppe gegenseitig besser zur Verfügung stellen, damit die Versorgung gemeinsam koordiniert werden kann. Ich benutze hierfür gerne den Begriff des Wissensmanagements, also das gemeinsame und systematischen Zusammentragen von Wissen und Nutzen desselben.

Was bedeutet dies für die Stadt Schaffhausen?

Mit der vorhandenen Stadtkarte und den beschriebenen Ideen möchten wir mit unseren Partnerorganisationen ins Gespräch kommen und deren Wissen und Erfahrung einbeziehen. Auch der Faktor «Einbindung ins Quartier», wie in der Kölner Studie beschrieben, kann so diskutiert werden. Die Stadtkarte wird so zu Leben erweckt, vorhandene Ressourcen im Quartier aufgedeckt und Lücken diskutiert. Angedacht sind ein eigentliches Wissensmanagement und das systematische Zusammentragen und Erfassen der Informationen. Danach soll gezielt diskutiert werden, wer in welchen Quartieren wie aktiv werden kann. Der Fokus liegt jedoch nicht auf Massnahmen und Information zum Coronavirus. Sondern vielmehr auf der allgemeinen Diskussion, wie wir künftig ältere Menschen informieren und einbinden möchten.

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© Paul Schiller Stiftung, Mai 2020