Interview

Psychogeriatrische Betreuung: Ein Blick in die Praxis

Im Pflegezentrum Am Bruderholz in Basel wird eine ganzheitliche Betreuung gelebt, der interdisziplinäre Austausch ist selbstverständlich. Das Interview von Beat Steiger von Seniorweb mit Barbara Lüscher, Leiterin des Pflegezentrums, gibt Einblick, wie wichtig das Zusammenspiel aller Mitarbeitenden ist, um Bewohnende durch den Alltag zu begleiten und sie da unterstützen zu können, wo sie es benötigen.

02.07.2021

Zum Pflegezentrum Am Bruderholz in Basel gelangt man entlang der Tramlinie 15 durch eine mit Bäumen und Sitzbänken zum Verweilen einladende Allee. Beim Eingang warte ich ein paar Minuten und betrachte die Zierfische im Aquarium und nehme das Kommen und Gehen von Mitarbeitenden und Bewohnenden wahr.

Die Leiterin des Pflegezentrums, Barbara Lüscher, führt mich zunächst durch das Pflegezentrum, in dem 46 Bewohnende mit einer dementiellen und/oder psychiatrischen Erkrankung und zwölf jüngere Bewohnende ab dem 54. Lebensjahr mit einer psychiatrischen Erkrankung ihr zu Hause haben. Mir fällt sofort die freundliche, entspannte Atmosphäre auf zwischen Bewohnenden, Mitarbeitenden und der Leiterin. Viele sind mit oder ohne Gehhilfen unterwegs, mit oder ohne Begleitung, trinken zusammen in einer Wohnküche Kaffee oder sitzen in einer Nische oder draussen auf einer Bank. Ein Bewohner mit einem FC Basel-Leibchen erklärt beim Benutzen des Lifts der Leiterin noch schnell und einleuchtend, wie sie für das Haus das Beste gibt und warum er sich hier wohl fühlt.

Das Interview mit Barbara Lüscher über gute psychogeriatrische Betreuung können wir in der einladenden Gartenanlage mitten im Basler Gundeli durchführen.

Beat Steiger: Frau Lüscher, Sie sorgen Am Bruderholz für eine gute Betreuung von betagten Menschen, die nach einem Spital- oder Psychiatrieaufenthalt nicht mehr nach Hause oder in ihr früheres Pflegeheim zurückkönnen. Worauf achten Sie in der stationären Betreuung besonders? Was ist aus Ihrer Sicht am allerwichtigsten?

Barbara Lüscher: Ein zentraler Aspekt in der Gewährleistung guter Betreuung für unsere Bewohnenden sind für mich die Mitarbeitenden. Eine sorgfältige Rekrutierung hat für uns Leitungspersonen im Pflegezentrum oberste Priorität. Wir suchen Mitarbeitende, die ein Interesse am Menschen in seiner Ganzheit haben, mit all seinen Feinheiten und Eigenheiten und welche bereit sind, das Zusammenleben mitzugestalten. Wenn wir bei den Mitarbeitenden qualitative Kompromisse machen müssen, wird es schwierig. Wir wollen Mitarbeitende, die gemeinsam im Team möglichst gut sorgen für die Menschen, die hier wohnen und leben.

Damit sich die Bewohnenden im Pflegezentrum wohl fühlen, müssen die Mitarbeitenden aller Bereiche ihren Teil zur ganzheitlichen Betreuung der Bewohnenden wahrnehmen und umsetzen.

Auch die Mitarbeiter:innen in der Administration, der Verpflegung, der Hauswirtschaft, der Reinigung haben täglich Kontakt zu den Bewohnenden und tragen neben ihren betrieblichen Aufgaben das Ihre bei zu einer angenehmen, wertschätzenden Atmosphäre im Haus. Sie haben im Umgang im Rahmen ihrer Profession oft einen anderen Zugang zu den Bewohnenden als die Pflegepersonen, was das Zusammenleben bereichert. Auch die verschiedenen Kulturen und Sprachen sind ein wichtiger Aspekt. Mit dem Fortschreiten der Demenz geht die Sprache häufig zurück zur Muttersprache. Sehr hilfreich, wenn dann jemand da ist, der sich in dieser Sprache mit einem Bewohnenden unterhalten kann.

Die Bewohnenden werden ganz individuell durch Fachpersonen betreut. Wie wissen die Betreuenden, was jemand im Allgemeinen und in einer konkreten Alltagssituation braucht? Wie stark kann man auf individuelle Wünsche eingehen, wo liegen die Grenzen des Machbaren?

Die Menschen, die hier wohnen, benötigen in irgendeiner Art und Weise Unterstützung. Viele haben kognitive Beeinträchtigungen, eine psychiatrische Erkrankung oder besondere Verhaltensweisen. Die Betreuung geschieht im Hier und Jetzt. Wir begegnen den Bewohnenden jeden Tag und in jedem Moment, wie sie gerade sind und versuchen im direkten Kontakt herauszufinden, was ihnen gerade guttut.

Wir ergänzen laufend die Pflegeanamnese und Biographie aus den Gesprächen mit den Bewohnenden und/oder An- und Zugehörigen. Dies unterstützt uns im Alltag.

Bei den einen ergibt sich ein relativ klares Bild der Persönlichkeit, von den Wünschen und Bedürfnissen. Bei anderen bleiben viele Fragen offen. Oft wissen wir, was jemand mag, was nicht, egal ob es sich ums Essen, Musikgeschmack oder Lieblingsfarbe handelt. Hintergrundinformationen können hilfreich sein. Letztlich ist entscheidend, wie es dem Bewohnenden im Moment geht und was für ihn im Moment wohltuend und stimmig ist. Aber natürlich gibt es auch Grenzen. Gewisse herausfordernde Verhaltensweisen können die Mitbewohnenden und den Wohnbereichsablauf zum Teil sehr stark beeinträchtigen. Hier müssen wir auch Grenzen setzen, schauen, dass gewisse Strukturen und Regeln im Miteinander eingehalten werden. Einer unserer Aufträge ist es, ihnen den Rahmen und die Strukturen zu geben, was ihnen hoffentlich wieder Sicherheit und Orientierung gibt.

Die Pflegenden und Betreuenden sind ganz nah an den Bewohnenden im Unterschied zu Ärzt:innen und Psychiater:innen. Wie verläuft die Kommunikation zwischen Betreuenden und Ärzt:innen, damit eine bestmögliche Betreuungsarbeit geleistet werden kann?

Es finden regelmässig Visiten statt. Häufig findet der Austausch/Kontakt auch telefonisch oder per Mail statt. Im Rahmen unseres psychogeriatrischen Auftrages werden alle Bewohnenden nebst der hausärztlichen Betreuung auch durch Konsiliarpsychiater:innen betreut. Der interdisziplinäre Austausch ist sehr wichtig. Die Pflegefachpersonen informieren sie über die wichtigsten Ereignisse und besprechen die bestmöglichen Interventionen für den Bewohnenden.

Wie wird der Verlauf des Aufenthaltes dokumentiert?

Es wird für jeden Bewohnenden eine Pflegedokumentation geführt. Hier werden nebst den Pflegeberichten, auch die Visiten schriftlich festgehalten und die Medikamente verordnet. Es werden die biographischen Daten und Gewohnheiten der Bewohnenden notiert und die Patient:innenverfügung und persönlichen Wünsche erfasst und aufbewahrt. Im Rahmen des RAI, unseres Pflegebedarfsinstruments, wird mindestens alle 180 Tage ein Assessment gemacht. Hierzu wird alles dokumentiert, um die Einstufung des Pflegebedarfs zu belegen. Die Krankenkassen überprüfen stichprobenartig die RAI-Einstufungen, sie fordern in der Regel die Unterlagen schriftlich an und überprüfen die korrekte Dokumentation.

Wie werden An- und Zugehörige in die Betreuung eingebunden?

An- und Zugehörige sind für uns sehr wichtige Ansprechpersonen und werden, wenn von den Bewohnenden gewünscht, in die Betreuung miteingebunden. Zwischen ihnen und den Pflegenden finden regelmässige Gespräche statt. Jeder Bewohnende hat eine hauptverantwortliche zuständige Pflegefach- und Betreuungsperson. Diese sind die ersten Ansprechpersonen für alle Anliegen ihrer Bewohnenden. Sie sind im Kontakt mit den Ärzt:innen und Angehörigen, unterstützen in der Alltagsbewältigung und im Tagesablauf, helfen bei der Zimmereinrichtung oder gehen gemeinsam Kleider einkaufen. Bei vielen unserer Bewohnenden gibt es keine An- und Zugehörige oder der Kontakt ist abgebrochen. Häufig besteht eine Beistandschaft. Hier ermöglichen wir Kontakte und Begegnung zu Menschen ausserhalb des Pflegezentrums wie z.B. dem Besuchsdienst der Stiftung Rheinleben oder freiwilliger Mitarbeitenden.

Bewohnende haben manchmal Bedürfnisse nach Kontakt mit anderen Bewohnenden und Betreuungspersonen und manchmal nach Rückzug in die Privatsphäre. Welche räumlichen Bedingungen müssen aus Ihrer Sicht gegeben sein, damit beides leicht möglich ist?

Begegnung, Aktivitäten und Rückzug sind dank unserer Begegnungsnischen, Wohnküchen, der Caféteria und den durchgängigen Spaziermöglichkeiten im Haus und im schönen Garten mit Teich immer möglich. Je nach Befindlichkeit ist natürlich auch der Rückzug ins Zimmer wichtig. Die Mehrheit unserer Bewohnenden befindet sich bei uns jedoch die meiste Zeit in den öffentlichen Räumen, in Gesellschaft mit anderen Bewohnenden und Mitarbeitenden.

Bewohnende haben sicher auch gelegentlich den Wunsch, das Pflegezentrum zu verlassen, die Natur draussen zu geniessen oder an kulturellen Anlässen in der Stadt teilzunehmen. Ist das möglich?

Unbedingt! Wir sind hier mitten in der Stadt in einem sehr lebendigen Quartier. Hier kann man sich ausserhalb des Hauses in der Allee auf ein Bänklein setzen oder einen Kaffee trinken gehen beim nahen Tellplatz. Meist findet dies in Begleitung statt, wenige Bewohnende können aber auch selbständig das Pflegezentrum verlassen.

Durch die zentrale Lage lässt sich vieles sehr spontan verwirklichen, so dass wir ganz direkt vor Ort auf Wünsche der Bewohnenden eingehen können. Gerne werden auch Ausflüge mit dem Tram gemacht. Wir gehen in Museen, in den Zolli, natürlich an die Fasnacht, an die Herbstmesse usw. Das gehört dazu.

Wenn immer möglich gehen die Wohnbereiche einmal im Jahr in Kleingruppen mit Bewohnenden in die Ferien. Manchmal ins Hotel, aber häufig trifft die Wahl auch auf ein Ferienhaus im Jura. Mit den Bewohnenden des psychiatrischen Langzeitwohnbereichs waren wir schon auf Mallorca und Kos. Ohne das ganz persönliche Engagement jedes einzelnen Mitarbeitenden wären solche Ferien nicht möglich.

Zu einer guten Betreuung gehört auch die Förderung von Eigenaktivitäten und von selbständigem Handeln. Wie kann bei den Bewohnenden eine möglichst hohe Selbständigkeit und Eigenaktivität erhalten bleiben? Helfen sie mit beim Kochen, Putzen? Können Sie ungestört kreativ sein, Musik hören, tun, was ihnen ganz persönlich gefällt?

Unsere Grundhaltung ist eine aktivierende Betreuung und Pflege. Dabei geht es darum, den Bewohnenden durch den Alltag zu begleiten, ihn machen lassen, was er selbst tun kann und dort Unterstützung zu bieten, wo er sie benötigt. Es kann auch sein, dass man sich als Mitarbeitende an einen Tisch setzt und etwas malt oder Zeitung liest und dann kommt eine Bewohnende dazu, man fragt, «sollen wir zusammen Zeitung lesen?» und so ergibt sich gemeinsames Tun aus dem Flow des Alltags, aus dem Miteinbeziehen in Alltagsaktivitäten, die eh anstehen. Kleine Ämtli, wie den Esswagen holen für den Wohnbereich oder den Tisch decken sind wichtige Bestandteile in der Tagesstruktur. Bedingt durch die Krankheitsbilder finden viele Einzelaktivitäten statt. Aber auch das Gemeinsame oder die Kontakte in Kleingruppen werden gefördert. Wir freuen uns jetzt schon, wenn wieder Konzerte stattfinden können und gesungen, gesummt, getanzt oder einfach still beobachtet werden darf ohne die Einschränkungen der Corona-Schutzmassnahmen.

Sie kennen ja das Impulspapier der Paul Schiller Stiftung für eine gute Betreuung im Alter. Am Bruderholz wird viel, was im Impulspapier steht, bereits umgesetzt. Warum gelingt Ihnen das? Wo sehen Sie weiteren Handlungsbedarf?

Ich finde es enorm wichtig, dass dieses Impulspapier entstanden ist und dass der Fokus auf der Betreuung liegt. Ich komme aus der psychiatrischen Krankenpflege, da war und ist es ein zentrales Anliegen, mit den Betreuten durch den Alltag zu gehen und sie da zu unterstützen, wo sie es benötigen, wo es wegen ihrer Erkrankung nicht mehr alleine geht. Mit dem RAI-System wird in den Heimen klar definiert, wie viele Minuten Pflege pro Tag der Bewohnende je nach Pflegestufe zur Verfügung hat. Die Betreuung wird über die «Hotellerie- Taxe» abgerechnet, diese bildet aber viel zu wenig ab, was an Betreuungsleistungen erbracht wird. Weil gerade in unserem Setting der betreuerische Aufwand bedeutend höher ist, wird dieser pauschal mit einer Sondertaxe abgegolten. Aber ein Tag hat 24 Stunden und wenn beispielsweise zwei Stunden pro Tag Pflege und Betreuung finanziert sind, bleiben nebst der Nachtruhe noch viele Stunden, in denen die Bewohnenden Bedürfnisse haben. Dann ist es wichtig, dass jemand da ist und auch mal Zeit für ein Gespräch oder eine kurze Hilfestellung hat, sodass man einen möglichst normalen Alltag leben kann, tut, was man tun will und sich zuhause fühlen kann. Wichtig für die Pflegenden und Betreuenden ist auch, nicht nur in der Berufsrolle wahrgenommen zu werden, sondern ganz unverstellt als Menschen, die Interesse an anderen Menschen haben und einfach mal da sind und offen für das, was gerade ist.

Inwiefern hat die Corona-Pandemie den Umgang mit den Bewohnenden beeinflusst?

Was schwieriger geworden ist, ist die spontane körperliche Nähe. Grundpflege ohne körperliche Nähe ist nicht möglich. Aber jemandem spontan den Arm um die Schulter legen, die Hand halten, dies sollte im Moment soweit als möglich vermieden werden. In der ersten Welle waren die Besuchsregelungen eine echte Herausforderung. Zuerst wurden wir gelobt, wie wir unsere Bewohnenden schützen. Dann kehrte die Stimmung und es wurde viel über das Eingeschlossen-Sein in den Heimen berichtet. Wir versuchten in diesen Zeiten gut mit den An-und Zugehörigen im Kontakt zu sein. Es gab kaum Beanstandungen und es ist uns gelungen, in den Gesprächen individuelle Lösungen zu finden und diese entsprechend umzusetzen. In der 2. Welle hatten wir einzelne Corona-Fälle. Zum Glück sind alle wieder gesund und wir mussten keine grösseren Quarantänen im Haus vornehmen. Nun konnten alle Bewohnenden und Mitarbeitenden, die das wünschten, geimpft werden.

Barbara Lüscher

hat nach dem Besuch der Diplommittelschule (DMS) 1996 den Ausbildungsgang in psychiatrischer Krankenpflege abgeschlossen und zunächst an der UPK (Universitäre Psychiatrische Kliniken) Basel im Bereich Abhängigkeit und Sucht gearbeitet, ab 1999 in verschiedenen Führungsfunktionen. In einem Zwischenjahr reiste sie 2001 nach Australien und Asien, war nach ihrer Rückkehr Assistentin der Geschäftsleitung des Strassenmagazins Surprise und erwarb parallel dazu ein Handelsdiplom. Ab 2002 wechselte sie in die Langzeitpflege, zunächst im «APH Marienhaus» in Basel. Nachdem sie parallel zu ihrer Berufstätigkeit betriebswirtschaftliches Management NPO studierte und 2010 mit dem MAS abschloss, wurde sie im selben Jahr im «Pflegezentrum Am Bruderholz» Leiterin Betreuung und Pflege. Seit 2018 ist sie Leiterin des Pflegezentrums, welches zum BSB – Bürgerspital Basel gehört.