Interview

«Misshandlungen sind nicht immer von schlechten Absichten getrieben.»

Zur Prävention von Gewalt im Alter prüft der Bundesrat, die Zugänglichkeit bei Betreuungsangeboten zu verbessern. Deshalb wollen wir aufzeigen, wie sich Gewalt im Alter in der Schweiz zeigt und ob gute Betreuung dazu beitragen kann, das Risiko zu senken. Die Lausanner Professorin Delphine Roulet Schwab forscht seit Jahren zu Gewalt im Alter. Sie sagt: «Das Hauptrisiko liegt in Situationen, in denen wir anstelle der Person entscheiden oder sie einfach behandeln, als wäre sie ein Objekt, das ernährt und bewegt werden muss.»

08.11.2022

Immer wieder werden ältere Menschen in der Schweiz zu Opfern von Gewalt durch ihr Umfeld. Gute Betreuung könnte ein wichtiges Puzzlestück einer wirkungsvollen Gewaltprävention sein. Wir vertiefen mit diesem Interview, einem Gespräch mit Paolo Nodari von der Pro Senectute und mit dem online Live-Talk vom 15. November 2022 dieses Thema.

Wie definieren Sie Gewalt im Alter?

Delphine Roulet Schwab: Es gibt einen kleinen Unterschied zwischen den Sprachen: auf deutsch spricht man von «Gewalt», während im Französisch der Begriff «maltraitance», also «Misshandlung» gebräuchlich ist. Aber beide Male geht es nicht um eigentliche Konflikte, sondern um Handlungen oder Verhaltensweisen, welche die Integrität des älteren Menschen tiefgreifend beeinträchtigen. Es gibt verschiedene Arten von Gewalt oder Misshandlungen. Zuerst denkt man dabei an physische Gewalt. Aber psychische Gewalt ist viel häufiger. Also alles, was mit Demütigung, Herabsetzung, Druck, Infantilisierung zu tun hat. Auch finanzielle Misshandlungen sind sehr häufig. Also beispielsweise, wenn jemand für seinen älteren Elternteil die Einkäufe erledigt, ohne ihm zu sagen, seine Kreditkarte gleichzeitig auch für die eigenen Besorgungen benutzt zu haben.

Auch Vernachlässigung ist eine Form der Misshandlung: dass man nicht auf die Bedürfnisse eines abhängigen älteren Menschen eingeht. Dazu gehören, einer Person eine Ernährung oder körperliche Aktivitäten aufzuzwingen, die nicht ihren Fähigkeiten oder Wünschen entsprechen. Oder von ihr verlangt, in einer Wohnung zu leben, die ungenügend beheizt wird oder die sie nicht mehr selbstständig verlassen kann.

«Die Hauptherausforderung besteht darin, das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass ältere Personen Menschen wie alle anderen sind. Sie haben die gleichen Rechte und den gleichen Stellenwert in der Gesellschaft.»
Delphine Roulet Schwab, Professorin in Lausanne

Weshalb kommt es zu Gewalt an älteren Menschen?

Diese Misshandlungen gegen ältere Menschen sind nicht immer von schlechten Absichten getrieben. Im Gegenteil: Vielleicht meinen es die Angehörigen oder Fachkräfte gut, aber sie berücksichtigen nicht, was die Person will und kann. Und manchmal tun sie Dinge, die sie für richtig halten, ohne sich zu fragen, ob das für die betreute Person wirklich wichtig ist. Wir sprechen hier oft von erschöpften Angehörigen, die engagiert sind und ihre eigenen Bedürfnisse zurückstellen. Wenn man ihnen dann auch noch sagt, dass sie Misshandlungen begehen, ist das für sie sehr schwer zu akzeptieren. Anders hingegen, wenn man ihnen sagt: «Ich sehe, dass Sie versuchen, das Beste zu tun, aber vielleicht hat Ihre Mutter andere Prioritäten.»

Was ist die grösste Herausforderung, wenn wir in der Schweiz das Risiko reduzieren wollen, dass ältere Menschen Opfer von Gewalt werden?

Das Hauptrisiko liegt in Situationen, in denen wir aus den Augen verlieren, dass wir eine Person vor uns haben mit einer Geschichte, Rechten und einem eigenen Willen, und in denen wir anstelle der Person entscheiden oder sie einfach behandeln, als wäre sie ein Objekt, das ernährt, bewegt usw. werden muss. Deshalb besteht die Hauptherausforderung darin, das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass ältere Personen Menschen wie alle anderen sind. Sie haben die gleichen Rechte und den gleichen Stellenwert in der Gesellschaft.

Die altersbedingte Diskriminierung war aber gerade während der Pandemie sehr stark spürbar. Da hiess es: «Die Krankheit ist nicht so schlimm, weil sie ja NUR ältere Menschen tötet» oder «Menschen über 65 Jahre sind gefährdet. Sie müssen zu Hause bleiben, damit die Gesellschaft weiterlaufen kann». Also werden Menschen einzig nach dem Kriterium ihres Alters unterschiedlich behandelt und nicht nach ihren Fähigkeiten, ihren Interessen, ihren Lebensweisen oder ihren Werten.

Ältere Menschen sollen sich zu Themen, die für sie wichtig sind, selbst ausdrücken können. Ich nehme an verschiedenen nationalen Arbeitsgruppen teil, aber sehr selten sitzen Seniorenorganisationen mit am Tisch. Das ist ein echtes Problem: wir nehmen diese Haltung ein, dass wir Experten seien und wüssten, was gut für ältere Menschen sei. Womit wir wieder bei der ersten Frage mit den Themen Infantilisierung und Machtmissbrauch sind. Für mich liegt hier die Hauptherausforderung.

Sie forschen zu unterschiedlichen Aspekten der Gewalt im Alter. Was steht im Moment im Fokus ihrer Arbeiten?

Derzeit arbeite ich zu einem Projekt zur Gewalt bei älteren Paaren. Die Fachhochschule für Gesundheit La Source (HES-SO), das Nationale Kompetenzzentrum Alter ohne Gewalt und das senior-lab haben festgestellt, dass ab dem 60. Altersjahr Gewalt in der Partnerschaft völlig vom Radar verschwindet. Wenn man sich die entsprechenden Statistiken anschaut, sieht man, dass es sehr wenige ältere Menschen gibt, die Hilfsangebote nutzen oder sich beraten lassen. Wir wissen aber, dass es auch im Alter Gewalt in der Partnerschaft gibt und dass es keinen Grund gibt, dass diese plötzlich verschwindet, weil man 60 oder 65 Jahre alt ist.

Mit diesem Projekt wollen wir einerseits die Besonderheiten der Gewalt bei älteren Paaren und andererseits die Art der Zusammenarbeit der Fachleute in diesem Bereich besser verstehen. Denn es gibt einerseits Fachleute der Hilfe, Betreuung und Pflege für ältere Menschen, andererseits Fachleute im Bereich der Prävention von häuslicher Gewalt. Aber es gibt nur wenig Zusammenarbeit zwischen ihnen. Um die Nutzung der bestehenden Angebote zu verbessern, entwickeln wir Sensibilisierungsmaterial: etwa Flyer für Fachleute oder für ältere Menschen und Angehörige, aber auch Erklärvideos, die dazu anregen, Hilfe zu suchen. Zunächst geht es darum, die Denkweise der Betroffenen zu verstehen, und daraus Botschaften abzuleiten, um sie zum Nachdenken anzuregen.

«Es gibt sehr wenige ältere Menschen, die Hilfsangebote nutzen oder sich beraten lassen. Wir wissen aber, dass es auch im Alter Gewalt in der Partnerschaft gibt und dass es keinen Grund gibt, dass diese plötzlich verschwindet, weil man 60 oder 65 Jahre alt ist.»
Delphine Roulet Schwab, Professorin in Lausanne

Wie hängt aus Ihrer Sicht eine Stärkung der Betreuung mit Gewaltprävention zusammen?

Da gibt es einen starken Zusammenhang. Etliche Misshandlungen werden von betreuenden Angehörigen begangen, die erschöpft, aber auch schlecht informiert sind. Eine bessere Anerkennung dieser Arbeit und eine sichere Finanzierung wären eine wichtige Unterstützung für die Angehörigen. Und es würde das Risiko von Misshandlungen reduzieren.

Der Bund prüft ein Impulsprogramm zu Gewalt im Alter, mit einem Fokus auf Betreuung im Alter. Finden Sie ein solches notwendig?

Das ist ein sehr wichtiges Programm. Denn es verschafft dieser Problematik die nötige Anerkennung. Das Programm sollte zwei Dinge beachten: einerseits die bestehenden Angebote und Organisationen, die zur Prävention von Misshandlung beitragen, sichtbar machen, dauerhaft sichern und den Zugang für die Betroffenen vereinfachen. Die Opfer müssen wissen, dass es dieses Angebot gibt, dass es nichts kostet und dass die Sprache kein Problem ist.

Andrerseits soll das Programm die Zusammenarbeit zwischen den Akteuren stärken. Denn derzeit gibt es zwar viele Organisationen, die sich im Bereich Betreuung und Pflege älterer Menschen oder Prävention von Misshandlung engagieren, aber jede ein wenig für sich. Es gibt Netzwerke, doch niemand hat eine Gesamtübersicht. Es besteht ein echter Bedarf an Sichtbarkeit, leichtem Zugang und Koordination.

Zur Person

Delphine Roulet Schwab, Dr. phil. Psychologie, 43 Jahre, ist Professorin an der Fachhochschule für Gesundheit La Source (HES-SO) in Lausanne. Sie lehrt und forscht im Bereich Alterung. Zudem präsidiert sie den Westschweizer Verein «Alter Ego», der sich in der Gewaltprävention für alte Menschen engagiert. Sie ist auch Präsidentin von Gerontologie CH und des Nationalen Kompetenzzentrums Alter ohne Gewalt.