Interview

«Das Positive am Fachkräftemangel: Es entsteht eine gute Dynamik, um Pionierarbeit zu leisten.»

Der Mangel an Fachkräften in der Altersarbeit ist schon heute eklatant. Allein in der Pflege fehlen hunderte von Fachpersonen. Wer die Unterstützung der älteren Menschen gesamtheitlich betrachtet, stellt zudem fest, dass ein wichtiges Gebiet noch viel zu wenig abgedeckt ist: Die individuell ausgerichtete Betreuung, die neben den medizinischen Aspekten alle Lebensbereiche und das ganze Umfeld der älteren Menschen im Blick hat.

27.09.2023

Fehlt diese Betreuung, können ältere Menschen vereinsamen und verwahrlosen. Das gilt sowohl für die Menschen zu Hause als auch in den Alters- und Pflegezentren. Das dritte Impulspapier der Paul Schiller Stiftung belegt eindrücklich: Soziale Berufe bringen gute Voraussetzungen mit, um in der drohenden Unterversorgung eine wichtige Rolle einzunehmen und zu einer guten Qualität der Betreuungsleistungen beizutragen.

Ein Gespräch mit Dominik Brantschen, Co-Schulleiter von ARTISET Bildung hsl, zur Bedeutung der Sozialen Berufe in der Altersarbeit.

Macht es Sinn, jetzt eine weitere Debatte zu Sozialen Berufen in der Betreuung im Alter zu lancieren?

Die Frage hat eine hohe Aktualität. Wenn wir in die Zukunft schauen, müssen wir uns gut überlegen, wie wir die nötigen Ressourcen bereitstellen, um den Bedarf an Unterstützung im Alter abzudecken. Der Fachkräftemangel brennt unter den Nägeln.

Wie wirkt sich der Fachkräftemangel auf die Wahrnehmung der Sozialen Berufe aus?

Das Positive am Fachkräftemangel ist, dass die Institutionen kreativer werden und anfangen Sachen auszuprobieren. Das geht von neuen Arbeitsmodellen bis hin zum Verändern der Strukturen. Es kommt viel in Bewegung und es entsteht eine gute Dynamik, um Pionierarbeit zu leisten. Das ist auch eine Chance.

Angesichts knapper Ressourcen müssen wir das Vorhandene gut miteinander verbinden und kombinieren. In politisch wichtigen Themen werden heute Probleme gemeinsam an Runden Tischen diskutiert und entwickelt. Das erhoffe ich mir auch für unseren Bereich.

Was können die Sozialen Berufe in der Betreuung im Alter übernehmen?

Wir dürfen das Alter nicht pathologisieren und als Lebensphase betrachten, in der die physischen Defizite zunehmen und es vor allem Pflege braucht. Im Gegenteil: Gerade die Altersarbeit muss alle Lebensbereiche und die persönliche Situation jedes Menschen individuell betrachten und zu einer möglichst hohen Autonomie und Lebensqualität beitragen. Dafür sind die Fachleute mit Sozialem Fachhintergrund geschult.

«Wir dürfen das Alter nicht pathologisieren und als Lebensphase betrachten, in der die physischen Defizite zunehmen und es vor allem Pflege braucht.»
Dominik Brantschen, Co-Schulleiter von ARTISET Bildung hsl

Ein weiterer wesentlicher Aspekt: Die Altersarbeit ist ein Feld mit hoher Interdisziplinarität. Es geht darum, bestehende Ressourcen im «Sozialraum» zu identifizieren und zu nutzen. Damit gemeint sind möglichst alle Akteurinnen und Akteure im Umfeld der älteren Menschen, von den Angehörigen über Nachbarn und Bekannte bis zu Gemeinde und spezifischen Angeboten usw. Und hier kommen die Sozialen Berufe ins Spiel: An unserer Schule bilden wir generalistische Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen aus, damit sie in ganz unterschiedlichen Settings gut begleiten können. Sie sollen Profis der Alltagsgestaltung werden. Denn der Alltag ist der Reichtum, den wir haben. Das heisst auch, dass sie Fallarbeit leisten und Positionen übernehmen, in denen sie verbindend arbeiten, in denen sie Schnittstellen und Übergänge gestalten.

Wo sehen Sie die grössten Spannungsfelder?

Eines der grössten Spannungsfelder sehe ich in der erwähnten Interdisziplinarität und den Schnittstellen, die damit einher gehen. Auch wenn ich vorhergesagt habe, dass Fachleute mit Sozialem Hintergrund Schnittstellenprofis sind, ist uns bewusst, dass wir das natürlich nicht alleine besetzen.

Wir beobachten, dass die Organisationen und Institutionen der Altersarbeit zunehmend zu «Schnittstellenbetrieben» werden: Sie müssen einen gehörigen Anteil an Interdisziplinarität zusammenbringen. Insbesondere die Leitung muss dafür schauen, dass Fachleute mit unterschiedlichen Berufssozialisationen gut zusammenarbeiten. Ihre Aufgabe ist, das interdisziplinäre Zusammenarbeiten auf Augenhöhe zu begleiten, die unterschiedlichen Beteiligten zu würdigen und gleichzusetzen. Das heisst auch, in den Betrieben und Teams das Bewusstsein zu schaffen, dass unterschiedliche Kompetenzen gefragt sind und dass man gemeinsam einen Auftrag erfüllt.

Dieses Bewusstsein braucht es nicht nur an der Basis. Es spielt immer auch die politische Ebene hinein, wo noch viele Fragen offen sind. Um diese zu klären, braucht es ein übergeordnetes Zusammenwirken. Zum Beispiel ist es meines Erachtens falsch, ambulante und stationäre Angebote gegeneinander auszuspielen – das sollte auch politisch aufgehoben werden.

Apropos Politik: Die Betreuungsarbeit muss unbedingt aufgewertet werden. Das bedeutet, dass wir als Gesellschaft klären müssen, welchen Stellenwert sie für uns hat. Und aus Fachsicht müssen wir lernen auszuweisen, was unsere Arbeit wert ist. Es fordert uns heraus, das fassbar zu machen. Denn «chli hälfe» – das alleine umfasst dies nicht. Dass es dazu eine qualitativ fundierte Ausbildung und die entsprechenden Ressourcen braucht, muss auch von der Politik mitgetragen werden. Und Klatschen allein reicht nicht. Das hat die Pandemie im Bereich der Pflege eindrücklich vor Augen geführt.

Zur Person

Dominik Brantschen ist seit Oktober 2021 zusammen mit Thea Klarenbeek in der Co-Schulleitung der Höheren Fachschule für Sozialpädagogik in Luzern von ARTISET Bildung tätig. Aktuell absolvieren rund 340 Studierende die Ausbildung.

In ihrem Impulspapier «Das Potenzial Sozialer Berufe in der Betreuung im Alter nutzen» bringt die Paul Schiller Stiftung ihre Überlegungen und Impulse in die laufende Debatte ein.