Wohnen mit Betreuung nach Bedarf

Die Spitex Oberes Langetental beschreitet einen ungewöhnlichen Weg: An ihrem Stützpunkt in Huttwil bietet sie Kundinnen und Kunden die Möglichkeit, ein paar Nächte ausserhalb der eigenen vier Wände zu verbringen, mit Betreuung und Pflege nach Bedarf. Dies kommt auch den Angehörigen zu Gute.

Der Ball springt von der Betreuerin zur älteren Dame. Doch diese hat nicht mit ihrer Nachbarin gerechnet, die ihr den Ball vor der Nase wegschnappt. «Wie kannst Du nur?», entfährt es der Übergangenen, gespielt entsetzt. Die ganze Runde lacht. Ruhiger geht es an den beiden Tischen daneben zu, an denen acht Frauen und Männer konzentriert mit Karten spielen. Ein gewöhnlicher Nachmittag auf der «Etage 2» im Haus der Spitex Oberes Langetental in Huttwil. Dort hat die Spitex neben ihren Büros fünf Zimmer für Gäste, eine Küche sowie einen grossen Raum für gemeinsame Aktivitäten eingerichtet. Während die einen Besucherinnen und Besucher am späten Nachmittag wieder in die eigene Wohnung oder ins eigene Haus zurückkehren, bleiben andere über Nacht.

Bei der «Etage 2» handelt es sich um ein niederschwelliges Angebot, wie Franziska Ryser, Geschäftsführerin der Spitex Oberes Langetental, betont: «Bei uns kann man kurzfristig ein Zimmer mieten. Wir bieten Platz für Personen, die vorübergehend Schwierigkeiten haben, sich zu Hause zurecht zu finden, zum Beispiel nach einem Sturz. Wir helfen ihnen, wieder auf die Beine zu kommen.» Sie betont, dass die Etage 2 – der Name ist so pragmatisch wie das Angebot – keine Langzeiteinrichtung sei. «Ziel ist, dass Leute möglichst schnell wieder in ihre gewohnte Umgebung kommen. Unsere Gäste sollen selbst entscheiden, wann sie wieder nach Hause gehen wollen.»

Da ist zum Beispiel der Gast, der sich bei einem Treppensturz das Wadenbein gebrochen hat. Nach dem Aufenthalt im Spital fühlt er sich noch nicht bereit, wieder in die eigenen vier Wände zurückzukehren. Er hat für ein paar Tage ein Zimmer in der Etage 2 bezogen. «Er muss sich körperlich schonen, ist aber geistig noch sehr fit. Er hat mehrmals betont, wie froh er sei, dass er nicht in ein Altersheim musste. «Bei uns spricht niemand davon, dass er bleibt. Uns ist es wichtig, dass wir alle wieder guten Mutes nach Hause gehen lassen können. Wann das ist, entscheidet die Kundin oder der Kunde selbst.»

«Bei uns kann man kurzfristig ein Zimmer mieten. Wir bieten Platz für Personen, die vorübergehend Schwierigkeiten haben, sich zu Hause zurecht zu finden, zum Beispiel nach einem Sturz. Wir helfen ihnen, wieder auf die Beine zu kommen.»
Franziska Ryser, Geschäftsführerin der Spitex Oberes Langetental

Hilfe zur Selbstständigkeit

Auch wenn die fünf Zimmer gut ausgelastet sind, eine Ausweitung des Angebots steht für Franziska Ryser zurzeit ausser Frage. «Wir halten das Angebot bewusst klein. Nur so können wir gewährleisten, dass sich die Situation der oder des Einzelnen bessert. Wir helfen ihnen dabei, das wiederzuerlangen, was sie verlernt haben. Dazu gehört zum Beispiel, wieder besser gehen zu können – durch Physiotherapie und Bewegung sollen sie so schnell wie möglich wieder die Selbstständigkeit erlangen, die in ihrer Situation noch möglich ist.

Neben unkomplizierter Hilfe im Notfall bietet die Spitex in Huttwil auch eine Entlastung nach Plan an – damit betreuende und pflegende Angehörige auch mal Ferien machen können – etwas, das bei anderen Institutionen nicht möglich ist. Entsprechend gross ist auch die Nachfrage. «Wir haben viele Anfragen, es ist ein grosses Bedürfnis für betreuende Angehörige.»

160 Franken pro Tag kostet ein Zimmer; Mahlzeiten, Aktivitäten und Infrastruktur inbegriffen. Die Pflege wird separat abgerechnet. Finanziert wird die Etage 2 durch einen Fonds, den der Spitex-Verein aus Mitgliederbeträgen und Spenden äufnet.

Die Spitex Oberes Langetental ist 2010 durch die Fusion von vier Spitex-Organisationen entstanden und für zehn Gemeinden im Berner Langetental zuständig. Sie zählt eher zu den kleineren Organisationen, mit rund 12‘000 Einwohnerinnen und Einwohnern verfügt sie aber über ein dichtes Versorgungsnetz. An einem Standort ist die Kommunikation einfacher, sagt Franziska Ryser, die 90 Mitarbeitenden vorsteht.

Mehr Zeit für persönliche Begegnungen

Neben den Kundinnen und Kunden, die auf der Etage 2 wohnen, kommen Seniorinnen und Senioren für ein paar Stunden zu Besuch. Bis zu 20 Personen nehmen jeweils an einem der Angebote wie Malen, Turnen, Singen oder Backen teil, viele von ihnen werden vom Fahrdienst zu Hause abgeholt. Ohne diesen wäre es ihnen auf dem Land oft nicht möglich, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. «Die Begegnungen tun unseren Kundinnen und Kunden gut. Viele von ihnen sind am Anfang noch skeptisch, nach ein paar Besuchen erkennt man sie aber fast nicht mehr», sagt Franziska Ryser. «Sie haben neue Kontakte gefunden und warten sehnsüchtig auf den nächsten Nachmittag ausser Haus.»

Die Mitarbeitenden der Spitex Oberes Langetental arbeiten seit fünf Jahren nach den Grundsätzen der Eden-Alternative, die sich für menschenwürdiges Betreuen und Arbeiten einsetzt. Die 1992 von einem amerikanischen Arzt gegründete Eden-Alternative macht Einsamkeit, Hilflosigkeit und Langeweile für einen grosser Teil der Leiden von älteren Menschen verantwortlich. «Mit der Umstellung wollten wir auch etwas für die Mitarbeitenden tun – denn wir hatten das Gefühl, dass das Medizinische immer mehr im Mittelpunkt steht. Wir hatten keine Zeit mehr, uns hinzusetzen und mit den Leuten zu sprechen. Dabei ist persönliche Wertschätzung so wichtig.»

Sich Zeit nehmen, hinsitzen und zuhören – solche Dinge sind in der Leistungsabrechnung nicht vorgesehen. Dennoch geht die Rechnung für die Spitex Oberes Langetental auf: «Die Umstellung hat den Druck von Mitarbeitenden weggenommen. Wir haben heute weniger krankheitsbedingte Absenzen. Die Mitarbeitenden dürfen sich nun ohne schlechtes Gewissen auf einen Schwatz einlassen. Und die Kundinnen und Kunden sind sehr dankbar, dass wir uns Zeit nehmen.»

Die menschliche Beziehung wird in der Pflege und Betreuung immer im Vordergrund stehen, davon ist Franziska Ryser überzeugt. «Wenn ein Mensch schon jemanden kennt, hat er auch Vertrauen und kommt gerne wieder. Das wird sich auch in 100 Jahren, wenn Roboter im Einsatz sind, nicht ändern.»

Das Wegkommen von der rein ambulanten Pflege bis hin zum persönlichen 24-Stunden-Betreuungsangebot auf der Etage 2 hat sich laut Franziska Ryser gelohnt. «Heute haben wir mehr Möglichkeiten, Zwischenschritte zu machen. Das gibt uns und den Kunden Zeit zu überlegen, wie es weitergehen soll.»

Zusammenarbeit mit Sozialpädagogen

Und noch auf einem Gebiet leistet die Spitex Oberes Langetental Pionierarbeit: In Huttwil arbeiten die Fachpersonen Betreuung mit einer Sozialpädagogin zusammen. Betreuung würde im Spitex-Alltag immer wichtiger, sagt Ryser, inzwischen entfielen nur noch rund 10 Prozent der Arbeitszeit auf Pflege. Die Zusammenarbeit mit der Sozialpädagogin helfe bei der Umsetzung von Strategien oder bei Erstellung von Tagesabläufen. Sie kommt da zum Einsatz, wo Gespräche allein nicht mehr nützen – als Beispiel nennt Ryser den Fall einer jüngeren Frau mit Angstzuständen, die vorübergehend auf der Etage 2 wohnen konnte.

Franziska Ryser sieht aber auch Grenzen des Machbaren, zum Beispiel bei Menschen mit starker Demenz. «Wir haben keine Möglichkeit, unser Haus abzuschliessen. Das würde uns und die anderen Gäste überfordern.» Sie überlegt kurz. Dann sagt sie mit einem verschmitzten Lächeln: «Es braucht aber schon ziemlich viel, bis wir einmal Nein sagen.»