Philosophischer Stammtisch – Nähe und Netzwerk im Pflegezentrum

Ob Frauenstimmrecht, Lügen oder Handygesellschaft – am Stammtisch des Wohn- und Pflegezentrums Tertianum Zedernpark in Weinfelden werden Themen diskutiert, welche die Bewohnenden interessieren, aber auch aufrütteln. Es wird gelacht und manchmal geweint. Der Heimalltag hat durch dieses Betreuungsangebot gewonnen.

Den Stammtisch hat Daniel Kübler ins Leben gerufen. Er ist Geschäftsführer des Tertianum Zedernpark in Weinfelden, wo die Bewohnerinnen und Bewohner «Gäste» genannt werden. Im Interview erklärt Kübler, wie er auf den Stammtisch gekommen ist und welche Erfahrungen er damit gemacht hat.

Worum geht es beim Stammtisch?

Daniel Kübler: Er ist Teil des Programms «Mens sana in corpore sano», das auf geistige und körperliche Fitness abzielt. Dazu gehört ein Turnprogramm, das die Gäste und unser Team während dem Corona-Lockdown gemeinsam erarbeitet haben und das ich unter der Woche jeden Tag mit ihnen turne. Daneben brauchen wir auch noch etwas für die geistige Fitness. Am Stammtisch hat es zwischen zehn bis zwanzig Gästen, Frauen und Männer gemischt. Soeben haben wir den 40. Stammtisch gefeiert.

Wie ist dieser Stammtisch entstanden?

Als ich hier angefangen habe, führte ich einen regelmässigen Austausch mit den Gästen ein. Neben ganz alltäglichen Themen sprachen wir hauptsächlich über das Essen und den Kontakt zwischen Gästen und Pflegenden. Schon bald wiederholten sich die Themen, so dass ich fand: Es kann doch nicht sein, dass ich jeden Monat mit diesen Menschen zusammensitze und wir uns ohne inhaltliche Tiefe austauschen. Also habe ich sie nach ihren Interessen und Lebenserfahrungen gefragt. Ich bemerkte schnell, dass sie gerne erzählen und übers Leben reflektieren würden. Da habe ich mir für den nächsten Gästestammtisch ein paar Gesprächsthemen überlegt.

Wie wählen Sie die Themen?

Ich wähle die Themen querbeet. Mal liefert mir ein Zeitungsbericht eine Idee, mal ein Feiertag, eine politische Debatte – wichtig ist, dass wir Fragen mitten aus dem Leben besprechen.

Welche Themen werden diskutiert?

Nachdem ich in der Zeitung einen Rückblick auf die Einführung des Frauenstimmrechts gelesen hatte, fragte ich im nächsten Stammtisch ein bisschen provokativ: Brauchen wir das überhaupt? Das ist mir dann um die Ohren geflogen...

Auf das Thema «Lügen» kam ich, nachdem ich gelesen hatte, dass ein Mann durchschnittlich drei Mal, eine Frau zwei Mal am Tag lügt. Zur Einleitung des Themas habe ich behauptet, das würde ja bedeuten, dass wir an diesem Tag alle schon einmal gelogen haben. Als Reaktionen kamen: «Ich habe sicher noch nie gelogen…», aber auch «Ja doch, ich habe heute morgen schon…» So nähern wir uns dem Thema an und bearbeiten es mit Erlebtem aus unserem konkreten Alltag. Und kaum ist der Stammtisch vorbei, sagt ein Gast, der im Rollstuhl sitzt, zu einer verdutzten Pflegerin: «Und wann haben Sie heute schon gelogen?» Die Gäste nehmen das Besprochene unmittelbar mit in ihren Alltag und wenden es an. Das fasziniert und freut mich.

Am nationalen Zukunftstag hatten wir auch spontan die jugendlichen Besucher zum Stammtisch eingeladen. In dieser Runde sprachen wir dann darüber, wie sich das Handy auf das Kontaktverhalten auswirkt. Von den älteren Gästen kamen viele Vorurteile, wie «Die können ja gar nicht mehr miteinander reden…» Also haben wir versucht herauszufinden, wie man früher aufeinander zugegangen ist und wie es die Jugendlichen heute machen. Da hat sich herausgestellt: Es ist immer noch gleich – als erstes spricht man über das Wetter! Da mussten alle lachen.

Wie wirkt sich der Stammtisch auf das Zusammenleben aus?

Wir wollen bewusst die soziale Teilhabe unserer Gäste fördern. Und mit der Biographiearbeit berücksichtigen wir, was diese bisher in ihrem Leben gemacht haben und was wir davon im Alltag weiterpflegen können. Der Stammtisch unterstützt beides, die soziale Teilhabe und die Biographiearbeit. Diese Runden können lustig bis berührend sein. Wenn es zum Beispiel um das erste Mal geht, als man die eigene Frisur bestimmen konnte, aber auch wie man nach dem frühen Tod des Ehemanns allein vier Kinder aufziehen musste, bis hin zu einer Kindheit unter widrigen Umständen, über die man noch nie gesprochen hat. Da fliessen auch Tränen, aber man ist füreinander da. Es entsteht sehr viel Nähe und dadurch ein tragendes Netzwerk, in dem man sich besser kennenlernt, als wenn man nur miteinander Znacht isst.

Wie gross ist der Aufwand?

Es braucht kaum Vorbereitung. Die Themen ergeben sich aus dem Alltag. Aber man muss wach dafür und in Gesprächsführung geschult sein. Mir kommt entgegen, dass ich nach meiner Schreinerlehre Sozialarbeit studiert und eine vertiefende Ausbildung in Philosophie besucht habe. Da habe ich viel über Gesprächs- und Kommunikationsverhalten gelernt, auch ganz anders Fragen zu stellen und anders zuzuhören.

Ist der Stammtisch auch für Sie eine Bereicherung?

Ja, definitiv! Der Stammtisch hat mich gelehrt, dass die Zeit im Pflegezentrum eine Lebensphase ist, die man aktiv und sinnvoll gestalten kann. In der es sich lohnt, über das eigene Leben nachzudenken und sich zu überlegen, was man noch tun will. Ein Gast hat mir einmal spontan für den Stammtisch gedankt, weil er nun endlich wisse, wie er sich von seiner Familie verabschieden könne. Er war krank und uns war beiden bewusst, dass er nicht mehr lange zu leben hatte.

Weitere Informationen: Wohn- und Pflegezentrum Tertianum Zedernpark in Weinfelden