Praxis
Einen Sinn im Alltag erfahrbar machen
Das abgelegene Tessiner Dorf Monte im Valle di Muggio ist in den letzten drei Jahren zu einem Ort der Begegnung geworden. Eine zentrale Rolle dabei spielen ältere Menschen, die jüngeren Besucherinnen und Besuchern helfen, eine Verbindung mit der Geschichte zu finden – und durch diese Aufgabe ihren Alltag als sinnvoll erleben.
Das Muggiotal und das Onsernonetal, das sind zwei idyllische, abgelegene Talschaften im Tessin. Die jüngere Bevölkerung wandert in die städtischen Zentren ab – und zurück bleiben vielfach ältere Menschen, die ihr ganzes Leben hier verbracht haben, deren Identität und Geschichte eng mit der Region verbunden ist. Wer jetzt aber meint, dass diese Menschen dort gleichsam vergessen und einsam ausserhalb der Gesellschaft leben, der irrt. Besonders im 100-Seelen-Dorf Monte im Valle di Muggio, stehen gerade auch die älteren Menschen in einer Verbindung zur Aussenwelt, zu Menschen aus umliegenden Gemeinden, aber auch aus Mendrisio und anderen Tessiner Städten und selbst zu Besucherinnen und Besuchern aus anderen Teilen der Schweiz.
Monte hat sich einen Namen gemacht, es hat im Verlauf der letzten drei Jahre Modellcharakter auf schweizerischer Ebene erlangt. Einen wesentlichen Anteil daran hat Dieter Schürch, der mit seinen Laboratorio di Ingegneria dello Sviluppo Schürch (Liss) einen Entwicklungsprozess angestossen hat. «Wir wollen das Wohlbefinden und die Lebensqualität von Menschen und Gemeinschaften fördern», sagt er. Eine zentrale Rolle spielen dabei ältere Menschen, «die in unserer Gesellschaft immer wichtiger werden, weil sie immer länger leben». Umso entscheidender sei es, «die Frage nach dem Sinn älterer Menschen in unserer Gesellschaft zu stellen.» Und seine Antwort: «Ältere können Jüngere in einer Welt, die immer schneller dreht, dabei helfen, innezuhalten und eine Verbindung mit der Geschichte zu finden.»
Ältere Menschen erzählen von früher
Ältere Menschen, so die Überzeugung und gleichzeitig die Vision von Dieter Schürch sollen zum Nutzen der ganzen Gemeinschaft in die gesellschaftliche Entwicklung einbezogen werden. «Wenn diese dann erleben, welche wichtigen Aufgaben sie trotz ihres fortgeschrittenen Alters immer noch haben, gibt das ihrem Alltag einen Sinn.»
In Monte ist man dieser Vision ein Stück nähergekommen. Familien oder Einzelpersonen unternehmen Ausflüge dorthin, um von den älteren Einwohnerinnen und Einwohnern Geschichten über das Leben von früher zu hören, mit ihnen an traditionellen Festen teilzunehmen, im Dorfladen nach alten Rezepten zu suchen oder in die Geschichte des Dorfes einzutauchen. Am Beginn dieser Entwicklung stand ein Forschungsprojekt, welches das Laboratorio di Ingegneria dello Sviluppo Schürch im Auftrag mehrerer Tessiner Gemeinden des Muggio- und Onsernonetals sowie des Schweizerischen Seniorenrats durchgeführt hat. Mittels einer breit angelegten Umfrage versuchten Dieter Schürch und sein Team herauszufinden, wie das Leben der älteren Bevölkerung in Randregionen verbessert werden kann. Daraus resultierte eine Reihe von Empfehlungen, die von sozialen über technische bis hin zu baulichen Massnahmen reichen. Die Gemeinde Castel San Pietro, zu der das Dort Monte gehört, entschied sich, diese Massnahmen dort umzusetzen.
Die Erfahrung und die Bedürfnisse einbeziehen
In alle diese Massnahmen sind das Wissen, die Erfahrungen und die Bedürfnisse der älteren Bevölkerung in Monte eingeflossen. Im bestehende Dorfladen ist neu ein kleines Kaffee integriert und lädt zu einem Plauderstündchen ein. Den Austausch fördern weiter Sitzbänke im ganzen Dorf. Handläufe entlang der steilen schmalen Gassen, in die Kugelbahnen eingebaut worden sind, geben den Bewohnenden Sicherheit und animieren gleichzeitig Kinder Murmeln hinunterrollen zu lassen.
Die Erinnerungen der Älteren bildeten weiter die Grundlage für architektonische Interventionen und Infotafeln an historischen Stätten und Gebäuden, welche die Geschichte des Dorfes sichtbar machen. Die ältere Bevölkerung trägt auch zur Wiederbelebung alter Bräuche bei und sie werden involviert, wenn es um Ideen geht, wie Monte für Besuchende noch attraktiver werden kann.
Freiwillige unterstützen gesellschaftliche Teilnahme
Um die Teilnahme älterer Menschen am gesellschaftlichen Leben zu unterstützen und ihnen damit einen sinnstiftenden Alltag zu ermöglichen, bildet das Team von Dieter Schürch Freiwillige aus, Frauen und Männer unterschiedlichen Alters, die in der Region wohnen und mit den Gegebenheiten vertraut sind. Von ihrem Engagement profieren ältere Menschen im ganzen Muggiotal, nicht nur in Monte.
«Ältere Menschen benötigen nicht nur Pflege», betont Dieter Schürch, «sondern sie brauchen jemanden, der ihnen zuhört, der Zeit mit ihnen verbringt und das immer mit dem Ziel, in Verbindung mit dem Umfeld zu bleiben.» Für diese psychosoziale Begleitung werden die Freiwilligen in einem Kurs von 50 Stunden ausgebildet. Zudem werden sie ein Jahr lang bei ihren Besuchen begleitet. Koordiniert wird das Engagement der Freiwilligen seit wenigen Jahren durch die für die Pflege zu Hause zuständige regionale Organisation. Schürch: «Hier wird jetzt abgeklärt, welche psychosozialen Bedürfnisse eine ältere Person hat». Die Freiwillige leisten auch praktische Unterstützung, etwa bei der Arbeit im Garten oder im bei Problemen mit der Informationstechnologie.
20 Freiwillige sind derzeit im ganzen Muggiotal unterwegs. Der Bedarf wäre grösser. «Die Ausbildung und die Begleitung der Freiwilligen kostet aber etwas», sagt Schürch. Er sieht den Bedarf für die psychosoziale Begleitung älterer Menschen dabei längst nicht nur in den abgelegenen Tälern, sondern ganz besonders auch in den Quartieren der Städte, wo die Einsamkeit oft ein grosses Problem darstellt.
Das Beispiel Monte und auch die psychosoziale Begleitung durch Freiwillige macht derweil Schule in anderen Randregionen der Schweiz, etwa im Urner Isenthal und Silenental oder in Bündner Calancatal. «Im Calancatal haben sich vier Gemeinden zusammengeschlossen, um eine solches Projekt realisieren zu können», freut sich Schürch. Zudem habe man hier von Beginn weg alle Organisationen im Bereich Gesundheit mit ins Boot geholt. «Monte» lasse sich dabei nicht einfach kopieren, man müsse immer die örtlichen Gegebenheiten berücksichtigen. «Die Projekte müssen aber getragen sein von der Vision, ältere Menschen einzubeziehen und ihnen einen Sinn im Alltag zu vermitteln.»
Quelle: Artikel aus dem Themenheft «Koordinierte Betreuung» in redaktioneller Zusammenarbeit der Paul Schiller Stiftung mit Artiset/Curaviva, Pro Senectute Schweiz, Alzheimer Schweiz, Gerontologie CH, Entlastungsdienst Schweiz, Schweizerisches Rotes Kreuz, senesuisse und der Spitex Schweiz (Dezember 2024).