Eigenwillig und einzigartig, nicht krank und ausgeliefert

Immer mehr Altersheime anerkennen den Wert einer guten Betreuung als Ergänzung zur Pflege. Doch wie wird das im Alltag gelebt und umgesetzt? Was bringt betagten Menschen nach einem langen Leben in Selbständigkeit und Eigenverantwortung den grössten Gewinn? Theo Deutschmann, Geschäftsführer des Kompetenzzentrums für Lebensqualität in Schaffhausen, zum Perspektivenwechsel, der damit verbunden ist.

Wir haben im Haus Schönbühl 2002 begonnen, den Schwerpunkt auf die Betreuung zu legen, und im Rahmen eines Neubaus kleine, überschaubare Wohngruppen eingeführt. Zwar kochte die Zentralküche noch für sie, abgesehen davon waren sie aber recht autonom. Das veränderte auch die Haltung der Mitarbeitenden. Davor hatte das Personal fast ein schlechtes Gewissen gehabt, mal etwas länger mit einem Bewohner zu sprechen. Es brauchte ein paar Jahre, um allen klar zu machen, dass das Arbeit ist, und zwar ein wichtiger Teil der Betreuung.

Kleine Anpassungen, grosse Wirkung

Die Dominanz der Pflege wollte ich brechen: Pflegende und Betreuende sollten sich auf gleicher Augenhöhe begegnen. Deshalb schafften wir die klassische Pflegedienstleitung ab und führten eine Bereichsleitung Betreuung und Pflege ein, und zwar mit der Betreuung an erster Stelle. Auch andere Bezeichnungen wurden angepasst: Aus den Stationen wurden die erwähnten Wohngruppen, aus den Stationszimmern Büros. Damit normalisierten wir die Lebensumstände der Bewohnerinnen und Bewohner. Das hat viel gebracht.

Damit das Personal mitzog, mussten wir die Mitarbeitenden schulen. Da half mir das Gedankengut, das ich aus der Sozialpädagogik mitbrachte. Bei den Patientenrapporten zum Beispiel herrschte das medizinische Gedankengut aus dem Spital vor, allein schon der Name!

Aber eine Langzeiteinrichtung ist kein Spital, und das mussten auch die Mitarbeitenden zuerst lernen. Die Leitung Betreuung führte deshalb Betreuungssitzungen ein, in denen es nicht um die Pflege ging, sondern zum Beispiel um Essenssituationen. In Wohngruppen mit 10 bis 12 Bewohnerinnen und Bewohnern das Mittagessen moderieren ist eine ganz andere Aufgabe als in einem Saal mit 50 Personen, wie es in Altersheimen oft der Fall ist.

Im Schönbühl führten wir ein Ethik-Forum ein, in dem das Personal auch heikle Themen ansprechen konnte. Etwa die Frage, ob man Demenzerkrankten gegenüber lügen darf. Oder noch Schwierigeres wie Fragen zum assistierten Suizid. Zusammen arbeiteten wir für uns alle gültige Handlungsrichtlinien aus.

«Die Dominanz der Pflege wollte ich brechen: Pflegende und Betreuende sollten sich auf gleicher Augenhöhe begegnen.»
Theo Deutschmann, Geschäftsführer des Kompetenzzentrums für Lebensqualität in Schaffhausen

Teilautonome Hausgemeinschaften

Das Modell der Wohngruppen bauten wir schliesslich aus zu teilautonomen Hausgemeinschaften mit eigenem Budget. Sie gestalten ihren Alltag selber, sie kaufen ein und kochen selber, gestalten ihre Feste selber und gehen zusammen ins Kino oder an den Rhein. In diesen Hausgemeinschaften arbeiten Leute mit einer Pflegeausbildung Hand in Hand mit Sozialpädagogen und anderen Berufsleuten, und alle lernen voneinander. Das bringt eine völlig neue Qualität ins Haus.

Hinter all dem steckt die Grundidee, dass wir weg wollen vom alten Menschen, der «nur» gepflegt werden muss. Selbstverständlich: Wenn er Pflege braucht, bekommt er die. Aber in erster Linie ist der Mensch eigenwillig, autonom und einzigartig, nicht krank und ausgeliefert. Das ist ein gewaltiger Perspektivenwechsel.

Haus Schönbühl

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