Praxis
Beziehung vermittelt Trost und Sicherheit
Menschen mit Demenz benötigen für ihr Wohlbefinden grosse menschliche Nähe und Beistand. In den Demenzwohngruppen des Schönbühl Kompetenzzentrums für Lebensqualität in Schaffhausen hat die Betreuungsarbeit deshalb einen hohen Stellenwert.

Das «Höfli», eigentlich ein stattlicher Hof, steht mitten im historischen Dorfkern von Herblingen, einer Gemeinde in der Nähe von Schaffhausen. Wohnhaus und Scheune samt Umschwung sind vor wenigen Jahren zu einem modernen Zuhause für Menschen mit Demenz umgestaltet worden. Das Erdgeschoss besteht weitgehend aus einem Gemeinschaftraum mit Küche, der auch dem Quartier offensteht. Besonders behaglich dann das angrenzende Stübli mit Cheminée. Bei meinem Besuch an einem späten Vormittag im September ist es ruhig hier, das Leben spielt sich oben ab, in den beiden Wohnungen, wo je sieben Menschen mit Demenz in einer Gemeinschaft zusammenleben.
In der Wohnung im ersten Stock sitzen mehrere Männer und Frauen an einem grossen Tisch, zwei Frauen sind ins Gespräch vertieft, andere Bewohnende lesen Zeitung, eine Dame beugt sich über ein Brettspiel, gemeinsam mit einem jungen Mann. Ein Herr sitzt im angrenzenden Wohnzimmer in einem grossen Ohrensessel, hört Musik und schaut zum Fenster hinaus. In der offenen Küche gleich neben dem Esstisch bereitet eine Frau, neugierig begleitet von einer Bewohnerin, das Mittagessen zu, es gibt Lachsfilet mit gratiniertem Gemüse.
Ganz normaler Alltag eben. «Mit dem Höfli haben wir das Konzept der Demenzwohngruppe einen Schritt in Richtung Normalisierung weiterentwickelt», sagt Patric Gonetz. Er leitet als Co-Geschäftsführer das Schönbühl Kompetenzzentrum für Lebensqualität in der Stadt Schaffhausen, zu dem das Höfli gehört. Neben dieser dezentralen Hausgemeinschaft zählen zum «Schönbühl» zwei weitere Hausgemeinschaften für Menschen mit Demenz im Haupthaus des Kompetenzzentrums. Dort sind auch weitere Wohngruppen für pflegebedürftige ältere Menschen untergebracht und zudem befinden sich auf dem Areal in Schaffhausen zwei Häuser, die «Wohnen mit Service» anbieten.
Emotionen wahrnehmen
Eine wohnliche Atmosphäre schaffen, das ist im Kompetenzzentrum für Lebensqualität eine wichtige Aufgabe. «Wir sind kein Spital, sondern ein Lebensraum», unterstreicht Marcus Pohl. Er ist Geschäftsleiter Betreuung und Pflege. Die Mitarbeitenden, von denen die meisten eine Pflegeausbildung absolviert haben, verstehen sich als Alltags- und Lebensgestalter. Zu diesem Selbstverständnis gehört, dass sie keine Berufskleidung tragen, auch keine Namensschilder. «Die kompetente Pflege ist für uns selbstverständlich, die Bewohnenden sollen uns aber in erster Linie als Menschen wahrnehmen, die sie durch ihren Alltag begleiten.»
Neben einer schönen Wohnumgebung wird die Lebensqualität der Bewohnenden im «Schönbühl» durch die Betreuungsarbeit positiv beeinflusst, betont Marcus Pohl, der sowohl Sozialpädagoge als auch Pflegefachmann ist. Ganz besonders wichtig sei Betreuung bei Menschen mit Demenz. «Sie brauchen grosse menschliche Nähe, viel Beziehungsarbeit, um Sicherheit und Zufriedenheit zu erleben.» Menschen mit Demenz durchleben aufwühlende Situationen, in denen der persönliche Beistand Orientierung und Geborgenheit vermitteln kann. «Ohne gute Betreuung, die Trost und Bindungssicherheit vermittelt, sind diese Menschen verloren.»
Die Beziehungsarbeit müsse bei Menschen mit Demenz wesentlich über die Wahrnehmungen der Emotionen erfolgen, weiss Marcus Pohl. Eine anspruchsvolle Aufgabe, die viel Empathie erfordere. Ein solche könne nur entwickeln, wer von der Überzeugung getragen ist, «dass jeder Mensch unabhängig von seinen kognitiven Fähigkeiten eine unverlierbare Würde hat», zitiert Pohl einen Leitsatz des Kompetenzzentrums.
Die Emotionen wahrzunehmen, bedeute etwa, dass «wir die Menschen nicht in ihrer Wirklichkeit korrigieren, sondern mit ihnen in ihre eigene Welt eintauchen, um sie dort abzuholen». Wenn sich eine Frau zum Beispiel wünscht, dass ihre Mutter sie besuchen kommt, «dann gehen wir darauf ein, bestärken sie in ihre Liebe zur Mutter, indem wir uns mit ihr zusammen an die vielen schönen Erlebnisse erinnern».
Unterstützung in allen Alltagsaktivitäten
Gute Betreuungsarbeit erfordert, dass die Mitarbeitenden die Bedürfnisse und die Interessen der ihnen anvertrauten Menschen genau kennen. Eine wichtige Hilfe dabei ist die Biographiearbeit und damit die Zusammenarbeit mit den Angehörigen. Diese füllen zunächst einen Biografiebogen aus und stehen dann in einem regelmässigen Kontakt mit der Bezugsperson eines Bewohners oder einer Bewohnerin. Mehrere Angehörige, so Patric Gonetz, begleiten zudem gleichsam als «freiwillige Betreuungspersonen» ihren Partner oder ihre Partnerin den ganzen Tag über. Gonetz: «Diese Einbindung der Angehörigen ist Ausdruck der Normalisierung, erfordert aber auch Koordination.»
«Menschen mit Demenz brauchen in allen Aktivitäten des täglichen Lebens Unterstützung», unterstreicht Marcus Pohl – und fügt bei: «Wir verstehen uns als Angestellte der Bewohnerinnen und Bewohner. Sie sagen uns, was sie wollen, und nicht wir ihnen.» In Erfahrung bringen, was die Menschen wollen, ist nur möglich, «wenn wir ihnen mit echter, ungeteilter Aufmerksamkeit begegnen».
Ein wichtiger Faktor für das Wohlbefinden auch von Menschen mit Demenz ist es, wenn sie sich gebraucht fühlen, am gemeinschaftlichen Leben teilnehmen können. Das gemeinsame Haushalten in den Wohngruppen, Alltagsartikel im Dorfladen einkaufen, beim Rüsten oder dem Abwaschen helfen, hat eine wichtige Bedeutung. Pohl: «Menschen mit Demenz benötigen viel positives Feedback für ihre Mitarbeit, auch wenn die abgetrockneten Teller auch mal im Backofen versorgt werden.» Unterstützung leisten die Alltags- und Lebensgestalter weiter dabei, wichtige soziale Kontakte aufrechtzuerhalten; zu ehemaligen Nachbarn etwa, zu Familienmitgliedern, zu Freunden. Dazu gehört auch, die Teilnahme an Vereinsaktivitäten den Besuch eines Konzerts oder eines Fussballmatchs zu ermöglichen.
Schulung einer bestimmten Haltung
Im «Höfli» gehen die Mitarbeitenden mit den Bewohnerinnen und Bewohnern zudem wenn immer möglich im Dorf zum Coiffeur, zur Fusspflege oder auch zum Arzt. Weiter nehmen Bewohnende an Dorfaktivitäten wie der Chilbi teil – und laden ihrerseits die Nachbarn zum Adventsfenster ins «Höfli» ein.
Eine umfassend verstandene Betreuungs- und Beziehungsarbeit erfordert Zeit. Im «Schönbühl» arbeiten in den Demenzwohngruppen denn auch wesentlich mehr Mitarbeitende als in den anderen Bereichen. Die Finanzierung bedeute eine permanente Herausforderung, so Co-Geschäftsführer Patric Gonetz. Die spezifischen Bedürfnisse von Menschen mit Demenz erfordern zudem eine bestimmte Haltung, wie Markus Pohl im Gespräch immer wieder betont. «Wir müssen uns auf die Sichtweise und die Realität unseres Gegenübers einlassen, ohne dieses zu bewerten und zu korrigieren.» Dafür braucht es regelmässige Weiterbildungen, auch Fallbesprechungen. Marcus Pohl wünscht sich zudem – neben sich selbst und einer weiteren Mitarbeiterin – weitere Fachpersonen aus dem Sozialbereich.
Quelle: Artikel aus dem Themenheft «Koordinierte Betreuung» in redaktioneller Zusammenarbeit der Paul Schiller Stiftung mit Artiset/Curaviva, Pro Senectute Schweiz, Alzheimer Schweiz, Gerontologie CH, Entlastungsdienst Schweiz, Schweizerisches Rotes Kreuz, senesuisse und der Spitex Schweiz (Dezember 2024).