Auslegeordnung Politik
Wo Parlamentsmitglieder der Bundesratsparteien Handlungsbedarf sehen
Was tut die Bundespolitik im Thema Betreuung? Und was möchte sie in Zukunft tun? Wir haben mit vier Mitglieder der Sozial- und Gesundheitskommission des National- und gesprochen und sie gefragt, was es braucht, damit ältere Menschen in der Schweiz gut betreut sind und ein selbstbestimmtes Leben führen können.
Zugang zu Betreuung für alle gewährleisten
Flavia Wasserfallen (SP, Ständerätin BE)
- «Es braucht ein Umdenken: Der Mensch muss viel stärker ins Zentrum rücken. Das heisst staatliche Unterstützungsleistungen sind weniger an die Institution und einzelne Sozialversicherungen geknüpft, sondern an den Bedarf und die Bedürfnisse der zu betreuenden Person. Mit der Vorlage für Ergänzungsleistungen (EL) für betreutes Wohnen schliesst der Bund erstmals Betreuung explizit in eine Finanzierung ein und verfolgt eine solch institutionsunabhängige Unterstützung. Die in Erarbeitung begriffene nationale Altersstrategie ermöglicht eine Gesamtstrategie, welche die verschiedenen Themen, Initiativen und staatlichen Ebenen aufeinander abstimmt. Wir müssen aber weiterdenken, und zwar bereits heute: Damit der Zugang zu Betreuungsleistungen für alle gewährleistet ist, braucht es Finanzierungslösungen, die über die EL hinaus gehen. Einige Gemeinden haben hier innovative Modelle wie Betreuungsgutscheine eingeführt, die sich nicht eng an die EL-Grenzen halten. Auf Bundesebene sehe ich die Weiterentwicklung des Assistenzbeitrags und/oder den Ausbau und die Modernisierung der Hilflosenentschädigung als Instrumente zur Verbesserung der Zugangsgerechtigkeit. Idealerweise würden diese Systeme zu einem in sich kohärenten System für Menschen mit Unterstützungsbedarf ausgebaut, also für Menschen mit Behinderung und für ältere Menschen. Mit dem Ziel der Selbstbestimmung und Stärkung der physischen, psychischen und sozialen Gesundheit. Wenn sich Fachleute in die Diskussionen einmischen, beeinflusst und beschleunigt das die politische Entscheidfindung.»
Einbezug psychosozialer Leistungen
Benjamin Roduit (Mitte, Nationalrat VS)
- «Wenn man die Autonomie älterer Menschen verbessern und sie gleichzeitig in ihren Bedürfnissen unterstützen will, muss dies durch eine Stärkung der von Angehörigen ausgeübten Hilfen und Betreuungsaufgaben zu Hause geschehen. Zudem muss der Rahmen der anerkannten Leistungen um Aufgaben der Unterstützung, Begleitung und Beratung bei der Gestaltung des Alltagslebens sowie um psychosoziale Leistungen erweitert werden. Die Vorlage für Ergänzungsleistungen für betreutes Wohnen wird es ermöglichen, Pauschalen für betreutes Wohnen zu gewähren. Die Kantone sind für diese Ergänzungsleistungen zuständig und verantwortlich, der Bund muss jedoch die gesetzlichen Grundlagen für die Bereitstellung dieser Leistungen schaffen. Es muss deutlich gemacht werden, dass ein späterer Eintritt in ein Heim sowohl für die Betroffenen im Hinblick auf ihre Bedürfnisse und ihre Würde als auch für die öffentliche Hand in Form von Kosteneinsparungen von Vorteil ist. Dies bedeutet zusätzliche Mittel für die Betreuung zu Hause, aber auch die Festlegung von Qualitäts-, Wirksamkeits- und Wirtschaftlichkeitskriterien, für die die betroffenen Verbände und Institutionen bürgen müssen. Diese müssen darauf achten, dass die Hilfen an die Bedürfnisse der Empfänger angepasst und ausreichend sind, ihren finanziellen Möglichkeiten entsprechen und ohne grossen administrativen Aufwand beantragt werden können.»
Es braucht eine gemeinsame Strategie
Andri Silberschmidt (FDP, Nationalrat ZH):
- «Die Lebensrealitäten älterer Menschen sind sehr unterschiedlich. Um ein selbstbestimmtes Leben zu unterstützen, gilt es, die individuellen Bedürfnisse sowie die spezifische Situation der Betroffenen konsequent ins Zentrum zu stellen und ihnen mit innovativen Lösungen sowie neuen Technologien zu begegnen. Hier können wir noch besser werden. Ich denke an kreative Wohnformen wie generationenübergreifendes Wohnen, Senioren-Wohngemeinschaften oder betreutes Wohnen. An neue Mobilitätslösungen wie autonom-fahrende Rufbusse oder niederschwellige Mitfahrplattformen. Oder an die Stärkung der Digitalisierung, im Gesundheitswesen an sich sowie in Bezug auf ältere Menschen. Die Menschen sollen unabhängig von ihrem Alter besser befähigt werden, sich mit ihrer Gesundheit auseinanderzusetzen. Die Betreuung im Alter ist ein komplexes System von Zuständigkeiten der öffentlichen Hand auf Ebene Bund, Kantone und Gemeinden, von Non-Profit- und privatwirtschaftlichen Organisationen sowie von Zivilgesellschaft, Angehörigen und Freiwilligen. Leider fehlt heute eine gemeinsame Strategie. Hier kann der Bund seine koordinierende Rolle wahrnehmen und die Erarbeitung einer solchen anstossen und lenken. Gleichzeitig soll er darauf hinwirken, dass ambulante wie stationäre Betreuungsformen gleichbehandelt werden. Dadurch kann gezielter auf die individuellen Bedürfnisse sowie auf die spezifische Situation der Betroffenen eingegangen werden. Bereits heute herrscht eine grosse Nachfrage nach Betreuungsdienstleistungen, die aufgrund der demografischen Entwicklung noch weiter steigen dürfte.»
Appell an die gesellschaftliche Solidarität
Vroni Thalmann-Bieri (SVP, Nationalrätin LU)
- «Jeder möchte möglichst lange zu Hause bleiben und möglichst auch im gewohnten Umfeld sterben. Auf dem Land kann noch auf Mithilfe von Nachbarn und Verwandte gezählt werden. In den Städten und Agglomerationen ist das weniger der Fall. Hier wären günstige und zweckmässige Wohnungen in Generationenhäusern, in denen ältere und jüngere Menschen wohnen, ein möglicher Ersatz. Alt und Jung sollten sich gegenseitig unterstützen. Studierende und andere junge Erwachsene sollten einen aktiven Beitrag leisten und dabei helfen, ältere Menschen zu begleiten. Alle können dabei von einem günstigeren Mietzins profitieren. Ein Assistenzbeitrag würde solche Hilfeleistungen zusätzlich attraktiv machen. Das heisst Verantwortung übernehmen und nicht nur auf Stipendien und Staatshilfe hoffen, sondern auch etwas zum gesellschaftlichen Zusammenhalt beitragen. An spezifischen Betreuungsleistungen ist schon sehr viel in der Umsetzung: Hier sind die Gemeinden in der Pflicht und die Leistungserbringer wie Pro Senectute, Pro Infirmis und auch die Kirchgemeinden. Damit ältere Menschen sich die nötigen Hilfen auch leisten können, ist die Besteuerung der AHV-Renten nochmals zu prüfen und zu korrigieren. Zudem ist der Eigenmietwert für EL-Bezüger abzuschaffen, damit sie mehr Geld zur Verfügung haben. Andernfalls bleibt für die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben oft nichts übrig.»
Quelle: Artikel aus dem Themenheft «Koordinierte Betreuung» in redaktioneller Zusammenarbeit der Paul Schiller Stiftung mit Artiset/Curaviva, Pro Senectute Schweiz, Alzheimer Schweiz, Gerontologie CH, Entlastungsdienst Schweiz, Schweizerisches Rotes Kreuz, senesuisse und der Spitex Schweiz (Dezember 2024).
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