Politische Standortbestimmung
Es braucht eine koordinierte Betreuungspolitik
Der demografische Wandel stellt die Schweiz wie andere Länder vor grosse Herausforderungen. Mit Betreuung besteht ein wichtiges Instrument, um diesen zu begegnen. Doch Betreuung im Alter ist in der Schweiz nicht finanziert und muss weitestgehend aus dem eigenen Portemonnaie finanziert werden. Die Folge: Über 620'000 Menschen über 65 Jahren erhalten keine Betreuung, obwohl sie eine brauchen würden. Vor diesem Hintergrund ist es von grosser Bedeutung, Betreuung als zentralen Bestandteil einer wirkungsvollen Alterspolitik anzuerkennen.
Die Finanzierung der Betreuung ist – je nach Wohnort – unterschiedlich geregelt, sie ist jedoch nie über die Krankenkassen bezahlt: Im stationären Bereich wird sie als separate Betreuungstaxe oder als Teil der Hotellerie den Bewohnenden direkt in Rechnung gestellt, wobei dies – bei Menschen ohne die notwendigen finanziellen Mittel – schlussendlich der öffentlichen Hand verrechnet wird. Im intermediären Bereich und zu Hause geht sie ausschliesslich zu Lasten der Privathaushalte. In einigen Kantonen und Gemeinden werden gewisse Leistungserbringer subventioniert, so dass sie Haushalts- und Betreuungsleistungen zu günstigeren Tarifen anbieten können. Es gilt dabei zu unterscheiden, ob der der Fokus auf reinen Hilfeleistungen liegt (Arbeiten abnehmen), oder ob auch psychosoziale Betreuung berücksichtigt wird. Diese stellt im Gegensatz zu reinen Hilfeleistungen die Alltagsgestaltung und sozialen Aktivitäten der älteren Menschen ins Zentrum und unterstützt sie beim Erhalt ihrer eigenen Fähigkeiten.
Die private Finanzierung führt jedoch dazu, dass sich faktisch nur Personen mit einem gewissen Vermögen oder einer höheren Rente eine gute Betreuung leisten können. Die Konsequenzen daraus sind jedoch weder im Sinne der älteren Menschen noch der Gesellschaft: Erfolgt trotz nachweislichem Bedarf keine Betreuung, können Einsamkeit, eine verschlechterte Gesundheit bis hin zur Verwahrlosung entstehen und frühzeitige und vermeidbare Heimeintritte erfolgen.
Die Politik erkennt das Potenzial der Betreuung
Politisch sind Bestrebungen im Gange, diese Finanzierung zumindest schrittweise zu sichern. Greifen wir einige spannende Entwicklungen als Beispiele heraus.
- Die Städte Bern und Luzern haben mit «Betreuungsgutsprachen» bzw. «Gutscheinen für selbstbestimmtes Wohnen» bereits vor mehreren Jahren eine eigenständige Betreuungsfinanzierung eingeführt. Die Stadt Zürich startete per 1. Januar 2024 ebenfalls ein Pilotprojekt für «Betreuungszuschüsse». Alle drei Städte unterstützen so Privatpersonen direkt in der Finanzierung. Mit einem vorgelagerten Abklärungsprozess fördern sie vor allem auch das Erkennen von Handlungsoptionen, wie und in welcher Form Betreuung den jeweiligen älteren Menschen im Alltag unterstützen könnte. Anschliessend begleiten sie die Menschen bei der Organisation des Leistungsbezugs.
- Der Kanton Zürich führt per 2025 eine Finanzierung von Betreuungsleistungen über die Ergänzungsleistungen, im Kanton Zürich Zusatzleistungen genannt, ein. Er finanziert unter anderem Leistungen, die der «der Prävention von sozialer Isolation und psychischen Krisen» dienen. Der Kanton Glarus hält in seiner Pflege- und Betreuungsverordnung fest, dass das Angebot an Betreuungsleistungen folgende Bereiche umfasst: Selbstsorge, soziale Teilhabe, Alltagsgestaltung, Beratung und (Alltags)-Koordination.
- Mitte September 2024 hat der Bundesrat dem Parlament die Botschaft zur Vorlage «Ergänzungsleistungen für betreutes Wohnen» vorgelegt. Erstmals wird damit auf Bundesebene zu Betreuung legiferiert. In seiner Botschaft schlägt der Bundesrat vor, dass Beziehende von Ergänzungsleistungen im Rahmen der Krankheits- und Behinderungskosten Leistungen in folgenden Kategorien beziehen können: Notrufsysteme, Haushaltshilfe, Mahlzeitenangebote sowie Begleit- und Fahrdienste. Wenn es gelingt, im Rahmen der parlamentarischen Debatte insbesondere die Leistungsdefinition noch klarer psychosozial auszurichten, ist die Vorlage ein wichtiger erster Schritt zu einer Finanzierung zumindest für EL-Beziehende. Die Diskussion wird voraussichtlich in der Wintersession 2024 im Nationalrat als Erstrat geführt.
- Anfang 2024 hat der Ständerat als Zweitrat eine Motion für ein nationales Impulsprogramm zur Prävention von Gewalt im Alter mit Fokus auf Betreuung überwiesen. Das Programm soll Betreuungsstrukturen stärken und den Zugang erleichtern. Die Umsetzung durch das Bundesamt für Sozialversicherungen steht noch aus – und wird eine Herausforderung bei der aktuellen Bundesfinanzlage.
- Vom Ständerat wurde in der diesjährigen Frühjahrssession ein Postulat überwiesen, das den Bundesrat auffordert, die Altersstrategie des Bundes aus dem Jahr 2007 zu aktualisieren.
- Mit einem Postulat hat die Kommission für Soziales und Gesundheit des Nationalrates den Bundesrat beauftragt, den Reformbedarf der Hilflosenentschädigung aufzuzeigen und eine Weiterentwicklung in Richtung Betreuungsentschädigung zu skizzieren.
- Über mehrere Vorstösse wird eine Angleichung der Finanzierungsleistungen zwischen AHV und IV angestrebt. Die IV kennt einen Assistenzbeitrag, den die AHV nicht kennt. Die finanzierten Hilfsmittel unterscheiden sich. Zudem ist die Hilflosenentschädigung für IV-Versicherte rund doppelt so hoch wie für AHV-Versicherte.
- In einem Bericht im Auftrag des Bundesamtes für Sozialversicherung (BSV) wurde Ende 2023 die Eigenständigkeit der Betreuungsleistungen anerkannt und definiert. Das Büro BASS, das die Studie im Auftrag des BSV durchgeführt hat, empfiehlt darin eine Strategie für Betreuung im Alter. Bund und Kantone sollen gemeinsam eine Planung und Klärung vornehmen und die Schritte für die nächsten Jahre festlegen.
- In der Herbstsession 2024 hat der Nationalrat einer Motion zugestimmt, die eine Strategie für Betreuung und Wohnen im Alter und bei Behinderung fordert. Sie nimmt damit eine der Empfehlungen aus der oben erwähnten Studie auf. Der Ständerat hat eine gleichlautende Motion vor einem Jahr abgelehnt. Mit dem Ja des Nationalrates muss er das Anliegen noch einmal diskutieren.
Fortschritte gelingen – durch das Zusammenspiel von Praxis, Fachkreisen, Forschung und Politik
Die vielen Projekte und politischen Vorstösse zeigen deutlich die hohe Dynamik im Thema Betreuung. Fachverbände und Organisationen im Altersbereich engagieren sich für eine gute Betreuung im Alter, die allen zugänglich ist. Viele Städte, Gemeinden und regionale Verbunde haben das Thema Betreuung in ihren (Alters-)Strategien und Projekten verankert. Ebenso haben verschiedene Kantone das Thema aufgegriffen. Konkrete Entscheide auf Bundesebene sind jedoch noch ausstehend. Es braucht ein Zusammengehen von Entwicklungen in der Praxis, Erkenntnissen aus der Forschung und politischen Veränderungen auf allen drei föderalen Ebenen, damit die Versorgung der älteren Bevölkerung und damit ihre Sicherheit, Selbstbestimmung, psychische Gesundheit und ihr Mitwirken in unserer Gesellschaft gesichert und damit auch die Entlastung der Angehörigen realisiert werden kann. Eine gute Betreuung wird eine zentrale Rolle spielen, um sowohl das Potenzial der alternden Gesellschaft zu nutzen als auch die Würde, das Wohl und die Selbstbestimmung der älteren Bevölkerung zu sichern. Wenn es gelingt, den ungedeckten Betreuungsbedarf der älteren Menschen in den öffentlichen Dialog zu bringen, die Entwicklungen in der koordinierten Betreuung bei den Leistungserbringern und Fachverbänden sichtbarer zu machen, die Erkenntnisse aus der Praxis und Forschung zu vermitteln und diesen Dialog in die Politik zu tragen, sind substanzielle Verbesserungen möglich. Dazu braucht es neben der koordinierten Betreuung auch eine koordinierte Betreuungspolitik. Denn Betreuung ist ein zentraler Bestandteil einer erfolgreichen und zukunftsgerichteten Alterspolitik.
Quelle: Artikel aus dem Themenheft «Koordinierte Betreuung» in redaktioneller Zusammenarbeit der Paul Schiller Stiftung mit Artiset/Curaviva, Pro Senectute Schweiz, Alzheimer Schweiz, Gerontologie CH, Entlastungsdienst Schweiz, Schweizerisches Rotes Kreuz, senesuisse und der Spitex Schweiz (Dezember 2024).
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