Interview
Das Ja des Nationalrates zum Impulsprogramm gegen Gewalt im Alter – Einschätzung von Nationalrätin Ida Glanzmann

Ida Glanzmann ist Nationalrätin der Mitte Fraktion und ehemalige Präsidentin der Pro Senectute Kanton Luzern. 2015 forderte sie mit einem Postulat einen Bericht des Bundesrates zu Gewalt im Alter in der Schweiz. Der Bericht wurde 2020 publiziert und schätzt, dass in der Schweiz jährlich zwischen 300'000 und 500'000 Personen ab 60 Jahren von Gewalt, Missbrauch oder Vernachlässigung betroffen sind. Der Bericht regt die Durchführung eines Impulsprogramms zur Prävention von Gewalt im Alter an, bei dem alle drei föderalen Ebenen, Fach- und Branchenorganisationen sowie die Forschung mitwirken.
Der Bundesrat beauftragte 2020 auf Basis des Berichtes das Bundesamt für Sozialversicherungen, den Bedarf für ein Impulsprogramm abzuklären. Die Kantone unterstützten die Idee des Impulsprogramms. Trotzdem sprach sich der Bundesrat Ende Mai gegen die Durchführung eines solchen Programms aus. In weiser Voraussicht stellte Ida Glanzmann schon 2021 mit der Motion 21.3715 «Impulsprogramm zur Prävention von Gewalt im Alter mit Fokus auf Betreuung» sicher, dass auch das Parlament in der Frage mitdiskutieren kann. Der Vorstoss wurde in der soeben abgeschlossenen Sommersession diskutiert und mit grossem Mehr angenommen.
Wir haben bei Ida Glanzmann nachgefragt, wie es zum positiven Entscheid kam und wie es jetzt weiter geht.
Frau Glanzmann, der Nationalrat hat Ihre Motion für ein Impulsprogramm zur Prävention von Gewalt im Alter mit Fokus auf Betreuung mit 126:59 Stimmen angenommen – entgegen der ablehnenden Empfehlung des Bundesrates. Was hat dieses Resultat möglich gemacht?
Ida Glanzmann: Die Motion wurde mit 78 Mitunterzeichnenden aus allen Parteien eingereicht. Und die meisten, die damals unterschrieben hatten, haben im Rat zugestimmt. Zudem wurde im Vorfeld ein Brief mit der Empfehlung der schweizerischen Organisationen rund um Altersfragen im Rat verteilt und allen Mitunterzeichnenden per E-Mail zugestellt. Es war und ist ein Thema, das berührt und bei dem viele den Handlungsbedarf erkennen, wenn man es schafft, aus der Masse der vielen politischen Vorstösse hervorzustechen. Fazit: Gemeinsam konnten wir eine gute Unterstützung für die Motion realisieren. Es hat sich gelohnt!
Der Bundesrat begründet seine ablehnende Haltung unter anderem mit den vielfältigen Aktivitäten, die er zum Thema häusliche Gewalt durchführt – zur Umsetzung der kürzlich von der Schweiz ratifizierten Istanbul Konvention. Warum überzeugt Sie diese Argumentation nicht?
Ich finde es schlimm, dass der Bundesrat häusliche Gewalt und Gewalt im Alter nicht unterscheiden will. Laut WHO wird Gewalt im Alter so definiert: «Die Misshandlung älterer Menschen ist eine einzelne oder wiederholte Handlung oder das Unterlassen einer angemessenen Handlung, die in einer auf Vertrauen basierenden Beziehung vorkommt und die einem älteren Menschen körperliche oder seelische Schäden zufügt.» Und dies betrifft dann nicht Menschen, die ein Frauenhaus oder die Opferhilfe aufsuchen können. Somit stiehlt sich der Bundesrat aus der Verantwortung, wenn er sagt, dass er in diesem Bereich schon genügend Präventionsarbeit leiste.
Das Ja des Nationalrates war eine wichtige erste Hürde, als nächstes wird der Ständerat darüber befinden. Warum empfehlen Sie auch den Kantonsvertreterinnen und -vertretern ein Ja zur Motion?
Drei Kantonskonferenzen haben sich im Vorfeld mit dem Bund getroffen, um ein Impulsprogramm zu lancieren: die Konferenz der Sozialdirektorinnen und -direktoren (SODK), der Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren (GDK) und der Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren (KKJPD). Alle haben die Wichtigkeit eines solchen Programmes betont und im Herbst 2022 eine entsprechende Stellungnahme veröffentlicht. Dies sollte eigentlich ein guter Grund sein, dass auch die Ständerätinnen und -räte dieser Motion zustimmen sollten.
Die Motion fordert bewusst ein Impulsprogramm im Thema Gewalt im Alter mit einem Fokus auf Betreuung. Weshalb ist Ihnen dieser Fokus wichtig?
Mit einer entsprechenden Betreuung, die neben der Pflege eben auch psychosoziale Themen und Fragen abdeckt, könnten wir eine sehr wirkungsvolle Prävention leisten. Durch die Unterstützung der älteren Menschen in ihrem Alltag, die Entlastung der Angehörigen, die Sensibilisierung der gesamten Gesellschaft und Fachwelt mit Netzwerkarbeit, Forschung und auch Weiterbildung kann dieses Tabuthema angegangen werden. Wir brauchen dies, um viel Leid bei älteren Menschen und ihren Angehörigen zu verhindern.
Zum Weiterlesen:
- Protokoll und Video der Debatte im Nationalrat
- Rückblick Sommersession 2023